Dienstag, 12. Juni 2018

Was bin ich? (3)

Von 'Unsicher' zu 'Das bin ich!'


Was bin ich? (1)
Mensch, 'Special', Unsichtbar
Was bin ich? (2)Damals und der Anfang

Weiter geht’s mit diesem Versuch ein bisschen Ordnung in das Chaos in mir drin zu bringen. Ein Chaos, das ich scheinbar aus gutem Grund lange in mir eingeschlossen habe, zumindest habe ich jetzt teilweise den Eindruck...
Aber wenn ich darüber reden möchte, es ''an die große Glocke'' hängen möchte, darf ich das auch tun. Ich wollte das selber die längste Zeit nicht, aber seit neuestem hat es sich eben falsch angefühlt, still zu sein und mich irgendwie zu verstecken, etwas zu leben, das ich nicht bin.
Niemand muss das verstehen. Niemand muss verstehen ''Warum ausgerechnet jetzt!? Und warum so?''. Ich verstehe es selber nicht richtig, aber gerade ist es das, was es möchte und ich glaube, das ist Grund genug.

Ein kleiner Flashback zu der Zeit, als wirklich alles an diesem ganzen Zeug mich unsicher gemacht hat:
Ich glaube, das war etwa 2015? Ich könnte jetzt nachschauen, aber der genaue Zeitpunkt und der genaue Zeitraum, der seitdem vergangen ist, ist hier nicht das Wichtige, sondern eher, dass Zeit an sich vergangen ist. Es ist ein Prozess, alles an diesem Thema. Für mich zumindest. Und ich glaube, es ist ein Prozess, der mich mein ganzes Leben lang begleiten wird. Das ist okay.
Ich bin sowieso der Meinung, dass man sich selbst nie vollständig kennen kann und man verändert sich ja auch, unbewusst und bewusst. Für mich gehört sowas wie Sexualität und Geschlechtsidentität auf jeden Fall mit zu dem, was sich manchmal verändern kann. Für mich ist es nichts feststehendes und kann auch gar nichts feststehendes sein. Aber gut, dass geht jetzt schon wieder in eine ganz andere Richtung, als das, worum es hier jetzt gerade gehen soll.

Meine ersten Gedanken waren damals noch viel von Vorurteilen geprägt, auf deren Fallen ich auch jetzt noch manchmal hereinfalle. Aber niemand ist perfekt. Solange ich es mir bewusst mache und versuche daran zu arbeiten, passt das schon.
Damals war es halt alles einfach sehr neu für mich. Klar hatte ich von vielem irgendwie schon mal gehört, von einigem sogar in der Schule. Aber selbst dort haben wir uns nie viel damit beschäftigt. Es war immer nur ein Thema, das sehr am Rand existiert hat, wo es meiner Meinung nach besonders bei pubertierenden Menschen nicht hingehört. Es sollte ein wichtiges Thema sein, damit die Chance da ist, sich damit auseinandersetzen zu können.
Gut, 2015 war jetzt für mich eben auch schon nach der Schule, aber hätte ich vorher mehr von dem Thema gewusst, wäre ich sicher anders damit umgegangen, wie ich auch bereits in dem letzten Blogpost erwähnt hatte.

Zunächst war ich einfach nur neugierig bei dem Thema, weil es interessante, neue Möglichkeiten offenbarte. Schwule Charaktere und Beziehungen hatte ich zu dem Zeitpunkt ohnehin schon sehr sehr liebgewonnen, zum Teil deshalb, weil es was anderes als hetero ist und Homo-Pärchen kommen ja doch dann und wann mal ein wenig am Rande in einigen nicht konkret Boys Love oder Girls Love Geschichten vor. Es existiert also zumindest auch irgendwie.
Aber gut, Repräsentation ist halt auch nochmal so eine Sache für sich. Der Mangel an Repräsentation hat meine Unsicherheit auf jeden Fall sehr verstärkt. Vieles von dem, was ich neu lernte und was mich irgendwie auch ansprach, irgendetwas in mir traf, schien außerhalb von dem Ort, wo ich darüber erfahren hatte, kaum zu existieren, kaum bekannt zu sein. Und niemand kann mir erzählen, dass so etwas einen nicht verunsichert!

Natürlich habe ich mir selbst meine eigenen Gefühle dadurch nicht gleich abgesprochen oder mich gleich als ''etwas besonderes'' gefühlt. Ich war einfach nur irritiert und habe nicht verstanden, warum diese Gefühle nicht mehr behandelt werden, nicht mehr umgesetzt werden.
Es ist einfach so seltsam. Ich kann das gar nicht richtig beschreiben.
Auf jeden Fall ist es von diesem Standpunkt aus, nicht verwunderlich, dass ich das Gefühl hatte, nicht darüber reden zu können und dass es sowieso niemand verstehen würde. Ich verstand kaum selbst, was für Gefühle das waren und ich verstehe es immer noch nicht ganz, wie oben bereits erwähnt. Ich werde es nie ganz verstehen. Gefühle sind dafür viel zu komplex. Aber ich kann es trotzdem immer wieder versuchen.

Ich habe auch tatsächlich versucht, nicht zu viel darüber nachzudenken, weil es mir irgendwie so anstrengend vorkam und ich mich selbst nicht irgendwie abstempeln wollte. Ich wollte mich nicht irgendwie als etwas bezeichnen, dass ich vielleicht gar nicht bin oder nicht einmal sein darf.
Das ist auch noch einmal so eine Sache und ein sehr seltsames Problem. Dieses Gefühl, dieser Gedanke etwas nicht sein zu dürfen, obwohl man sich ganz offensichtlich so fühlt, als wäre man irgendetwas in Richtung dieses Etwas.
Ich war und bin da sehr ''self-cautious'', wie ich es immer nennen. Selbst-vorsichtig, selbst-bewusst im Sinne von mir dem, was ich tue/sage/was auch immer so sehr bewusst zu sein, dass es mich verunsichert. Keine Ahnung, ob das für irgendjemanden Sinn macht, aber so habe ich mich damals gefühlt.

Keine Ahnung, wie ich von dem Standpunkt aus dazu gekommen bin, trotzdem ein Video darüber zu machen und es hochzuladen. Ich habe mir dieses Video nicht nochmal angeschaut und habe das momentan auch nicht vor, weil ich weiß, dass da viel vorurteilhaftes Denken drin ist, aber nichtsdestotrotz waren es damals meine ehrlichen Gefühle und Gedanken.
Ich erwähne in dem Video zum Beispiel, dass ich finde, dass mein Gesicht nicht zwangsweise irgendeinem Geschlecht zugewiesen werden kann, weil es eben einfach ein Gesicht ist. Ich erwähne, dass ich mich viel mit männlichen Charakteren identifiziere und viel männliche Charaktere cosplaye und das für mich als Anzeichen sehe, eventuell genderfluid zu sein. Zumindest habe ich das so in etwa in Erinnerung.
Ich glaube aber auch, dass ich viel Blödsinn rede und sowieso ziemlich viel durcheinander quatsche, weil ich mir nichts vorher aufgeschrieben hatte und allgemein das Thema insgesamt noch sehr frisch für mich war.

Am Ende des Videos komme ich aber tatsächlich zu einem kleinen Ergebnis: Ich bin mir unsicher, was ich bin. Und hey, das ist ja schon mal ein erster, ganz guter Schritt!
Es ist ja auch gar nicht so, dass ich irgendetwas hätte überstürzen müssen damals. Das muss ich auch jetzt nicht. Das muss ich allgemein nie. Vielleicht zählt dazu auch, dass ich dieses Video (bzw Videos, es sind insgesamt 3) nicht hätte machen müssen. Aber ich wollte es. Ich wollte damals darüber reden, weil es mich alles so verunsichert hat und das Internet war und ist für mich der Ort, wo man einfach reden kann, wenn man möchte, ohne direkt irgendetwas zurückzubekommen oder das zu erwarten. Man redet ein bisschen ins Leere, wie beim Schreiben in ein Tagebuch, mit dem Zusatz, dass ganz vielleicht doch irgendwie was zurückkommt und einem die Unsicherheit ein bisschen genommen wird.
Das habe ich damals gebraucht und aus dem Grund habe ich über meine Unsicherheit geredet.

*

Heute: Seit ich doch vor gar nicht so vielen Tagen auf Twitter darüber geredet habe, was ich denn nun wirklich bin und es auch konkret gemacht und Labels benannt habe, obwohl ich mich dagegen bisher sehr gewehrt habe, bin ich tatsächlich zumindest in einem gewissen Online-Kreis und auch unter meinen meisten Freunden geoutet.
Ich finde immer noch, dass das sehr seltsam klingt und ja, dieses Outing selber hat sich sehr seltsam angefühlt, weil es irgendwie... aus einer komischen Motivation heraus entstanden ist und ich das auch sehr deutlich währenddessen gefühlt habe.

Jetzt aber mal vom eigentlichen Auslöser abgesehen, habe ich mich auch davor schon angefangen zu fühlen, als würde ich einen Teil von mir verbergen und sogar verdrängen. Ich habe das in diesen Blogposts ja schon mehrfach leicht angeschnitten. Irgendwie ist es genau dieses Gefühl, dass Outings in gewisser Weise für viele Menschen und auch irgendwo für und in unserer Gesellschaft nötig macht.
Es ist nicht nur ein ''als das bezeichne ich mich nun'' oder das Klarstellen von ''das bin ich wirklich'' (und nicht das, was alle sonst immer wahrscheinlich von mir gedacht haben), sondern auch eine Art Ausbruch. Und es ist schon fast unheimlich, wie gut ich dieses Gefühl inzwischen nachvollziehen kann.

Ich komme mir ein bisschen so vor, als wären die ganze Zeit unsichtbare Gitterstäbe um mich herum gewesen und zum Teil sind die sogar immer noch da, aber jetzt kann ich sie sehr viel deutlicher sehen, nehme sie bewusster wahr und habe ein paar von ihnen bereits verbogen und arbeite semi-aktiv daran, auch die andere Stäbe mehr und mehr zu verbiegen, bis sie irgendwann vielleicht ganz für mich verschwinden werden. (Was eigentlich so gut wie unmöglich sein sollte, zumindest beim momentanen Stand beziehungsweise der momentanen Sicht der größten Teile der Gesellschaft auf dieses ganze Thema.)

Der Punkt ist, dass ich mich einfach nicht länger von diesen Gitterstäben einengen lassen möchte, in keinster Weise. Ich will mich nicht mehr selbst klein reden. Ich will mich nicht mehr verstecken. I don't want to water myself down anymore. (Es gibt keine gute Übersetzung für ''to water down'' im Deutschen.)
Ich will einfach ich sein können und mein Gott, wenn ich durch dieses offene darüber Reden als ''Du willst doch nur Aufmerksamkeit!'' oder ''Du willst doch nur was besonderes sein!'' betitelt werde, dann bitte. Ich war wirklich lange genug still und unsichtbar. Ich habe mich lange genug nicht getraut, meine Gefühle richtig in Worte zu fassen.
Ich will nicht mehr zögern oder mich jedes Mal fragen ''Wie viel darf ich sagen, bevor ich seltsam angeschaut werde oder anders komisch reagiert wird?''. Ich will diese Unsicherheit nicht mehr mit mir rumtragen müssen.

Denn ich selber komme gut damit klar, wer ich bin. Ja, klar, das ganze Thema ist kompliziert und verwirrend und es berührt sehr sehr intime Dinge, über die man oftmals nicht nachdenken will und die man auch oft gar nicht teilen möchte, was auch vollkommen okay ist. Das hier ist meine Art damit umzugehen. Jeder kann für sich selbst entscheiden, was das Beste ist, womit man klarkommt, womit man leben kann. Da spielen so viele Faktoren hinein und es ist und bleibt eben etwas sehr Persönliches, das teilweise wirklich unnötig ausgeschlachtet wird.
Aber nichtsdestotrotz oder gerade deswegen hat jeder, der es für sich als in irgendeiner Weise gut erachtet, das Recht, sich offen über das Thema zu äußern und ich möchte das. Gott, ich wollte das schon so unendlich lange und ich bin froh, es endlich tun zu können, so unendlich froh.

Also was ist mein Stand der Dinge jetzt und hier in diesem Moment?
Ich bin immer noch ziemlich questioning in manchen Punkten und uff, Labels sind... hm. Es ist einfach alles so komplex, dass ich es schwer finde, es in einem Wort zusammen zu fassen. Und als ich es dann auf Twitter getan habe, weil es doch zur Klarheit irgendwie nötig war und ich auch keine Angst vor dieser Benennung, vor diesen Labels haben möchte, hatte ich auf einmal eine Liste von Begriffen und ja...
Nein, ich möchte nicht ''alles mitnehmen''. Es gibt da einfach verschiedene Kategorien, die man alle irgendwie für sich beschreiben kann oder in einem Wort benennen kann, wenn man das möchte. Diese Kategorien und das, was man in Bezug auf sie fühlt, existiert aber natürlich auch ohne Bewusstsein für diese Kategorie, die Begriffe aus dieser und auf jeden Fall auch ohne, dass seine Gefühle mit einem Wort für sich benennt.
Das Benennen von Begriffen, zu sagen ''ich bin das'', ändert im Grunde nichts an der Existenz der Gefühle, die sowieso da sind. Darauf werde ich in meinem letzten Blogpost zu diesem Thema, indem ich dann auch endlich mal genau auf die Labels, mit denen ich mich am meisten identifizieren kann, eingehen.

Das, was ich jetzt eben erklärt habe, ist auch der Grund, warum ich mit diesem Benennen der Labels bis ganz zum Schluss gewartet habe. Ich will mich natürlich auch damit auseinandersetzen, weil es schon irgendwo auch zum Kern der ganzen Geschichte gehört, die Frage ist immerhin „Was bin ich?“. Aber da diese Frage sehr eng mit „Wer bin ich?“ verknüpft ist, sollte jedem klar sein, dass die Antwort nicht ganz so leicht ist, wie man es vielleicht gerne hätte.
Vor allem wollte ich aber auch zeigen, dass es eben ein Prozess ist und zur Identitätsentwicklung dazugehört. Es ist etwas, das so oder so stattfindet, nur sollte unsere Gesellschaft lernen, sehr viel besser und offener damit umzugehen. Dann muss auch niemand mehr rumschreien „ICH BIN [hier Label einfügen]!“ Wobei das sicherlich trotzdem Leute tun werden, was auch okay ist. Jeder eben so, wie er möchte.

Mein neuer Status ist also: Hey, die Leute, mit denen ich engen Kontakt habe, wissen jetzt auch von dieser Seite von mir und lieben mich nach wie vor und ich habe diese Angst jetzt zumindest mal in der Hinsicht besiegt, yay! Und online wissen theoretisch auch alle Bescheid und ich kann jetzt Stück für Stück mich mehr darauf konzentrieren, meine Unsicherheiten zu überwinden.

Fazit:
  1. Vor einiger Zeit, als ich angefangen habe, mich mit dem Thema auseinanderzusetzen, waren da noch sehr viele Vorurteile in meinem Kopf, die meine Unsicherheiten noch verschlimmert haben. Aber immerhin wurde mir schon mal klar, dass ich nicht weiß, was ich bin.
  2. In letzter Zeit habe ich mich verstärkt gefühlt, als wäre ich oder zumindest ein doch nicht unbedeutender Teil von mir gefangen und es wäre an der Zeit, mich zu befreien und mich nicht länger selbst einzuschränken und klein zu reden.
  3. Ich habe mich geoutet. Also zumindest bei meinen engsten Freunden und online auf Twitter, Youtube und jetzt auch hier. Ich bin sehr sehr froh darüber, endlich über dieses Thema reden zu können. Es ist ein befreiendes Gefühl.