Dienstag, 27. März 2018

Schubladen-Fallen

Ordentlich liegen sie da, einsortiert, jeder an seinem Platz. So sollte es sein. So sollte es immer sein. Simpel, nicht unbedingt Schwarz und Weiß, aber ruhig Rosa und Blau, natürlich in verschiedenen Farbtönen, verschiedenen Nuancen, doch immer Rosa und Blau. Denn so sind sie: Rosa und Blau und niemals eine andere Farbe, niemals eine Variation, niemals Lila oder Grün oder Orange oder jede andere Farbe, die einem einfällt. Nein, es gibt nur Rosa und Blau, alle anderen Farben existieren nicht.
Und sie sind natürlich so von Geburt an. Rosa oder Blau kommen sie auf die Welt, niemals anders. Denn es gibt ja keine anderen Farben und selbst wenn, dann sind es doch nur ein paar Wenige, nicht? Die können ruhig ignoriert werden. Die zählen ja nicht. Die Mehrheit ist Rosa oder Blau. So ist es und so wird es immer sein.
So war es auch von Anfang an, nicht? Sie kamen mit einem bestimmten Aussehen, einer bestimmten ‚Funktion‘ zur Welt und das ist wichtig. Das müssen sie wissen und jeder andere muss es wissen und es muss deutlich zu erkennbar sein. Weil sonst… Ja, was sonst? Sonst wäre alles Chaos? Ordnung. Oh ja, die Ordnung. Die ach so wichtige Ordnung. Und das Vorbereiten, das Eingliedern, die ‚Funktion‘ erfüllen. Dafür sind sie da, nicht? Sie müssen Rosa oder Blau sein, sonst macht nichts mehr einen Sinn.
Also werden sie eingepfercht in ihre Schubladen, schön sortiert. Vielleicht dürfen sie mal die Schublade wechseln, aber auch nur ein einziges Mal. Sonst wird es zu chaotisch, zu verwirrend, zu komplex. Und niemand will das. Wir brauchen doch alle Ordnung und alles muss einen Namen haben und definiert werden.
Oh ja, das ist alles so so wichtig. Es ist wichtiger als alles andere. Wir sind schließlich darauf angewiesen. Wir müssen wissen, woran wir sind. Es muss alles leicht einzuordnen, leicht zu benennen, leicht zu verstehen sein. Also reduzieren wir es auf das Mininum: Zwei – Rosa und Blau.

Diese zwei Farben, diese zwei Kategorien, diese zwei… Formen (?) des Menschseins, Mann und Frau. Was sonst sollte es da geben, nicht? Wieso sollte es kompliziert sein? Menschen haben diese zwei Hauptgeschlechtsorgane und darin lassen sie sich einordnen. Warum nicht? Wo sollte es da ein Problem geben? Warum sollten wir uns nicht auf unsere Hauptgeschlechtsorgane reduzieren und in zwei Schubladen einordnen? Die zwei Schubladen reichen doch. Da ist doch genug Platz. Rosa und Blau sind doch genug Farben.
Was ist schon Individualität? Was ist schon Persönlichkeit? Es muss doch einfach sein und ordentlich. Es muss doch Sinn machen und für jeden verständlich sein. Komplexität, kleine Details, feine Unterschiede und Andersartigkeiten, andere Denkmuster und abweichende Gefühle – niemand braucht das. Es existiert doch gar nicht, nichts davon. Nein, wir sind nur unsere Oberfläche, nur unsere Hauptgeschlechtsteile, die uns Rosa oder Blau machen, die uns zu einem Mann oder einer Frau machen.
Oh und natürlich, du kannst ja einmal wechseln, kannst von Rosa zu Blau werden, von Blau zu Rosa. Aber nur einmal und nur zwischen Rosa und Blau. Denn andere Farben gibt es nicht. Was sollte da auch sein außer Rosa und Blau und ihre Nuancen? Mischungen aus diesen beiden Farben? Komplett andere Farben? Nein, es geht doch nur um dein Hauptgeschlechtsteil. Das bestimmt alles.
Wir sind schließlich Tiere, nicht? Menschen sind ja auch nur Tiere, nur Säugetiere. Wir wollen uns die ganze Zeit nur reproduzieren, nichts als Sex, nichts als Partnersuche und Kinder großziehen. Nur daraus besteht unser Leben, nicht? Jeder will das doch – Sex und einen Partner und eine Familie. So sind wir Menschen und nur so. Das ist ordentlich, vernünftig, logisch, verständlich.

Wie, dir geht es anders? Wie, du willst dich nicht in dieses System einfügen, in welcher Form auch immer? Tja, dann hast du Pech gehabt, weil du dann einfach nicht existierst.
Es gibt kein Dazwischen, kein Beides, kein Nichts oder Alles, keine anderen Farben, keine Details und Individualitäten. Niemand ist in irgendeiner Form anders, wir sind alle gleich. Wir sind alle die gleichen Tiere mit ihren zwei unterschiedlichen Hauptgeschlechtsorganen, die unser Leben bestimmen. Nicht?
Ich überdramatisiere nicht. Ich mache es einfach, mache es eindeutig. Sonst wäre doch alles zu schwierig, zu komplex. Das mag doch keiner. Ignorieren wir einfach all die anderen Ebenen, all die tiefer gehenden Gedanken, all die Gefühle, die sich nicht mit einem einzigen Wort beschreiben lassen. Ignorieren wir doch den Rest des Schrankes, abgesehen von den Rosa- und Blau-Schubladen. Ignorieren wir diese freien, namenlosen Fächer und anderen Schubladen. Die braucht doch keiner. Zwei Schubladen reichen vollkommen. Mehr braucht der Schrank Mensch nicht.

So fühlt es sich an. So klingt es oftmals, zumindest für mich, wenn von Mann und Frau gesprochen wird. Ich verstehe den Wunsch nach Ordnung, irgendwo. Aber nein, irgendwie nicht einmal das. Warum? Warum Mann und Frau? Warum nicht Mensch und Mensch? Manche Menschen haben dieses Geschlechtsorgan, manche ein anderes. Manche fühlen sich so und manche fühlen sich so. Manche haben diese Ansicht und manche eine andere. Manche denken so und manche denken so.
Da werden immer Schubladen sein, in die Mensch hineingepresst wird, natürlich. Da werden sogar immer Schubladen sein, in die Mensch selber zu passen versucht. Weil es einfach ist und ein Gefühl von Zusammengehörigkeit gibt und es ist ordentlich. Schubladen, Kategorien, Label – Sie sind nicht komplett sinnlos.
Aber meistens machen sie nur bedingt Sinn. Jeder ist mehr als die Schublade, in die Mensch von anderen Menschen gepresst wird. Niemand ist nur eine einzige Kategorie, nur eine Schublade. Manche mögen sehr stark in eine Schublade gehören und sich sehr stark damit identifizieren, aber selbst dann sind sie nicht die Schublade. Sie sind immer mehr. Jeder einzelne von uns ist immer mehr.
Wir sind alle komplexer, haben viele Eigenschaften, Schwächen, Stärken, Talente, Interessen. Das Alles macht uns aus. Das Alles ist, was wir sind. Wir sind nicht unser Geschlecht und schon gar nicht unser Geschlechtsorgan. Wir sind nicht nur Rosa oder Blau. Wir können Rosa oder Blau sein, natürlich. Aber wir können auch jede andere Farbe sein. Wir sind keine Tiere und selbst Tiere sind nicht nur Blau und Rosa.
Es gibt so so viele Farben. Wieso sollten wir nur zwei davon sein? Wieso sollte es nur diese zwei Schubladen geben? Wieso sollte unser Hauptgeschlechtsorgan ein solch großer Faktor in unserem Leben sein?
Es spielt doch keine Rolle. Es ist doch völlig egal, was für ein Geschlechtsorgan du besitzt oder haben möchtest. Für die Gesellschaft, für alle anderen ist es egal. Für dich selber ist es wichtig. Aber sonst sind wir vor allem eines: Menschen. Wir sind alle Menschen mit unseren menschlichen Gefühlen und Gedanken. Darauf kommt es an – aufs Menschlich Sein. Menschlich und bunt und jeder so, wie er eben ist, mit allem.

Ich bin ein Mensch. Ein oftmals widersprüchlicher Mensch mit nicht selten viel zu vielen Gefühlen und vor allem viel zu vielen Ängsten. Ich bin nicht mein Geschlechtsorgan. Ich bin auch kein Einhorn, auch wenn das bestimmt cool wäre, wobei sicherlich auch Einhörner ihre Probleme haben.
Ich bin ich. Und für mich selber brauche ich kein Label, keine Schublade, schon gar nicht eine über mein Geschlecht. Ja, es gibt Label mit denen ich mich eher identifiziere als mit anderen und ich bin froh, dass so viele Menschen da draußen sind, die über ihre Labels, ihre Erfahrungen berichten, sodass andere erkennen können, dass es nicht nur Rosa und Blau gibt, sondern viele viele andere Schubladen, freie Fächer, Kategorien oder wie auch immer Mensch es nennen möchte.
Wir müssen uns nicht einordnen, unterordnen, verbiegen lassen. Wir sind frei, zumindest was unsere Gedanken und Gefühle betrifft. Wir sind wir, nicht mehr und nicht weniger.