Diese Kurzgeschichte ist mitten in der Nacht entstanden. Ich dachte, ich setzte mich mal mit meinem Block ans offene Fenster und zünde Kerzen an und schaue mal, was dabei herauskommt.
Viel Spaß beim Lesen. :)
Wort: Tag
Wörter: 699
Jeden Tag aufs Neue
Stell dir vor, du könntest dir jeden Morgen kurz vor
dem Aufwachen aussuchen, was an dem Tag passieren soll. Du dürftest
dir nicht wünschen, was passiert, nein. Aber du hättest eine
Auswahl und könntest ganz frei entscheiden, was passieren soll.
Wofür würdest du dich entscheiden?
Würdest du das gewöhnliche Leben eines einfachen
Menschen leben? Würdest du dich für die verrückten, ungewöhnlichen
Ereignisse entscheiden? Würdest du dich gegen eine Tragödie
entscheiden? Würdest du dich für diesen einen Moment, der absolut
alles ändert, entscheiden? Würdest du dich für den schönen,
leichten Weg entscheiden? Oder würdest du auch schmerzhafte Dinge in
Kauf nehmen? Würdest du dich für jeden Tag für etwas anderes
entscheiden oder stets das selbe Leben wählen?
Stell dir vor, es wäre wirklich so und du würdest dich
bloß nach dem Aufwachen nicht mehr daran erinnern und jede Nacht
würdest du dich aufs Neue, ohne jegliches Vorwissen, entscheiden.
Könntest du diese Entscheidung treffen? Würdest du es
wollen, diese Wahl? Oder würdest du lieber über jeden Moment
einzeln frei bestimmen?
Ich kann euch sagen, dass es im Endeffekt fast egal ist.
Ich habe mein Leben auf so viele unterschiedliche Weisen gesehen und
kenne so viele verschiedene Möglichkeiten, so vielfältige
Variationen, das ich beinahe vergesse, welches Leben ich tatsächlich
lebe.
Seid froh. Seid froh, dass ihr nicht alles wisst und
nicht alles sehen könnt. Seid froh, denn ihr würdet sonst immer
wieder bereuen und wärt nie zufrieden. Ihr würdet stets denken,
hätte ich mich doch anders entschieden! Ihr würdet stets grübeln,
was anders wäre, wenn ihr einen anderen Weg gewählt hättet.
Mag sein, dass es verführerisch klingt, alle Türen
offen stehen zu haben, alles tun zu können und das immer wieder aufs
Neue. Aber letztendlich könntet ihr euch trotzdem immer nur für
einen Weg entscheiden und ihr könntet nichts rückgängig machen.
Wäre es wirklich besser, alle Möglichkeiten für einen
Tag zu kennen? Wäre es nicht am Ende nur hinderlich? Ich weiß es
nicht.
Ich lebe das Leben, für das ich mich jeden Tag neu
entscheide. Ich weiß, welches Leben ich auch leben könnte. Ich
kenne alle Möglichkeiten und könnte jederzeit etwas ändern. Aber
könnte das nicht jeder, wenn er es wirklich wollen würde?
Am Anfang war ich fasziniert und voller Begeisterung,
als ich sah, was alles sein könnte und mir bewusst wurde, dass es
allein in meinen Händen lag und viele Leute eine solche Chance nicht
haben.
Heute bin ich abgestumpft und schon beinahe gelangweilt.
Jeden Tag könnte ich etwas ändern, könnte alles ändern und ich
tue es, weil es spannend ist, aber irgendwann ist mir die Freude
daran vergangen. Ich begann mich zu fragen, ob ich ein Ziel habe und
ob ich dieses mit all diesen Möglichkeiten vor Augen je würde
erreichen können.
Manchmal schließe ich die Augen und wähle blind, weil
es keinen Unterschied macht. Natürlich hat es Konsequenzen, so wie
alles, aber am nächsten Tag kann ich wieder alles ändern und am Tag
darauf wieder und wieder und wieder, bis zu dem Tag, an dem ich
sterbe.
Bei denen, die vor dem Aufwachen nicht all diese
Möglichkeiten sehen oder es danach wieder vergessen, ist es
eigentlich genauso. Bloß wissen sie es nicht und sie sehen nie
alles.
Ich beneide sie. Sie wissen noch, was eine wirkliche
Entscheidung ist, was große Veränderungen sind, wie sehr Momente
zählen. Ich habe das alles vergessen. Ich wünschte, ich könnte
auch vergessen, dass ich all diese Möglichkeiten kenne oder
zumindest herausfinden, was denn nun für mich der eine richtige Weg
ist.
Doch wahrscheinlich ist genau das der Sinn, der hinter
meiner Fähigkeit oder wie immer man es nennen mag, steckt. Es gibt
ihn nicht, den einen Weg. Du kannst bloß einen Weg gehen, ja, aber
du kannst diesen Weg immer wieder verändern, kannst abbiegen, noch
einmal zurückgehen, rennen oder schleichen, was immer du willst. Es
wird nicht aufhören, bis du stirbst.
Jeder Tag ist ein Neuanfang, eine neue Chance und das
musst du nutzen. Nicht wie ich. Ich mache es falsch. Ich habe mich in
all den Möglichkeiten verloren, sehe zu viel, denke zu viel.
Vielleicht sollte ich auf mein Gefühl vertrauen, mir vor meinem
Herzen den Weg weisen lassen. Vielleicht ist das der eine richtige
Weg, auch wenn es den gar nicht gibt.
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