Ich schreibe momentan an 32. :D
Wort: Blau
Wörter: 841
Frei für einen Tag
Ich träumte, ich wäre ein Vogel.
Ich weiß nicht, was für ein Vogel ich wäre. Aber das
war auch egal. Hauptsache ich hatte Flügel und konnte fliegen. Und
das konnte ich. In meinem Traum konnte ich fliegen.
Ich breitete die Flügel aus, lief los und vom nächsten
Windstoß wurde ich in die Lüfte gehoben. Gleichmäßig schlug ich
mit meinen Flügeln. Auf und ab, auf und ab, auf und ab. Der Wind
fühlte sich gut an. Er war nicht zu stark und nicht zu schwach. Ich
spürte ihn unter meinen Flügeln und in meinem Gesicht. Oben in der
Luft schmeckte er besser, als unten auf der Erde.
Ich flog über die Stadt hinweg. Die Häuser waren
zuerst noch groß, doch je höher ich flog, umso kleiner wurden sie
und die Menschen, die Menschen konnte ich schon sehr früh kaum noch
erkennen. Sie waren ganz klein und völlig unbedeutend. Ich war auch
unbedeutend. Als einzelner Vogel bedeutete ich nichts. Aber das
spielte auch keine Rolle. Ich war frei.
Ich flog und flog, immer weiter und weiter. Ich wollte
nicht anhalten, wollte nicht landen. Die Stadt unter mir wich weiten
Feldern, Wiesen und Wäldern. In einiger Entfernung konnte ich auch
einen See erkennen. Von oben wirkte alles ganz anders, kleiner, aber
auch viel schöner. Es war grün und lebendig, wogte im Wind und ich,
ich war ein Teil davon.
Ich ging in den Sinkflug und flog ganz dicht über das
hochgewachsenem Gras hinweg. Es kitzelte mich am Bauch und an den
Füßen. Ein Stacheldrahtzaun tauchte vor mir auf, aber ich flog
einfach über ihn hinweg. Der Zaun störte mich nicht. Er konnte mich
nicht aufhalten. Ich war frei.
Ich flog durch den Wald, Slalom um die Bäume herum. In
einer Baumkrone machte ich eine Pause. Hoch oben saß ich in dem
Baum, ein kleiner Vogel, einer von vielen und es war mir egal. Ich
war frei.
Ich weiß nicht, wie lange ich auf diesem Ast hoch oben
in diesem Baum saß und das Leben unter mir und um mich herum
betrachtete. Zeit war unbedeutend für mich.
Irgendwann erhob ich mich wieder in die Lüfte, weil ich
es konnte, weil es toll war. Ich schlug mit meinen Flügeln und
fühlte wieder den Wind, fühlte das Leben. Es gab nichts Schöneres
als zu fliegen. Es war uneingeschränkt, unbeherrscht, über allem
stehend. Doch gleichzeitig verlieh es einem keine Macht, zumindest
einen Vogel machte es dadurch nicht mächtig. Was waren Vögel schon?
Tiere. Es waren nur Tiere. Tiere, die fliegen konnten, aber nur
Tiere. Fische waren schließlich auch nicht mächtig, bloß weil sie
unter Wasser atmen konnten.
Um Macht ging es auch gar nicht. Wer wollte schon Macht,
wenn er Freiheit haben konnte? Ich würde die Freiheit jederzeit der
Macht vorziehen. Das Einzige, wozu ich Macht nutzen würde, wäre, um
alle frei zu machen. Frei vom Druck der Gesellschaft, frei von Sorgen
und Ängsten und Verzweiflung, frei von Verpflichtungen, frei von
Verantwortung, frei von Bedürfnissen. Frei.
In meinem Traum dachte ich daran, wie unwohl ich mich
als Mensch gefühlt hatte. Ich war so eingeschränkt, so beeinflusst,
so abhängig gewesen. Alles hatte etwas gekostet, meist Geld oder
Zeit oder auch Schmerz. Nirgendwo hatte ich hineingepasst. Ich hatte
mich immer fehl am Platz gefühlt, ein Außenseiter, ein
Andersdenker. Ich war so oft enttäuscht, so oft belogen, so oft
verraten worden. Niemand hatte sich je für irgendetwas bedankt, sich
je auch nur nach mir umgesehen. Es hatte weh getan! Es hatte
furchtbar weh getan. Aber ich hatte nichts tun können. Ich war
gefangen gewesen.
Jetzt nicht mehr. Jetzt war ich frei. Jetzt konnte ich
hin, wo immer ich wollte. Jetzt konnte ich einfach fliegen, fliegen,
fliegen. Ich musste gar nichts und ich musste auch nichts sein.
Niemand erwartete etwas von mir. Ich war frei.
Es war auch in Ordnung, keinen Platz zu haben, wo man
hingehörte. Als Vogel brauchte ich das nicht. Ich konnte immer
wieder weiterziehen, immer wieder einen neuen Ort finden.
Ich flog über den See hinweg, in dem sich das heute
wolkenlose Blau des Himmels spiegelte. Blau. Blau war schon immer
meine Lieblingsfarbe gewesen, himmelblau. Seit ich denken kann, war
es meine liebste Farbe. Und jetzt, als Vogel, war diese Farbe mein
Zuhause, mein stetiger Begleiter.
Ich hatte doch einen Ort, an den ich gehörte. Vögel
hatten einen Ort, an den sie gehörten. Es war der Himmel. Der Himmel
war der Platz, wo ich hingehörte. Hoch oben am blauen Himmel, dort
war mein Ort.
Nachdem ich aus dem Traum erwacht war, dachte ich
immerzu daran, wenn ich hoch in den Himmel schaute. Egal, ob er grau
von Wolken, rötlich von der Sonne oder schwarz von der Nacht war,
dort gehörte ich hin. Doch am Stärksten war dieses Gefühl, wenn
der Himmel klar war und in seiner schönsten Farbe, strahlendem
Himmelblau erstrahlte.
Wenn der Himmel mir diese Farbe zeigte, fühlte ich mich
geborgen und sicher und glücklich. Ich brauchte keinen Ort, an den
ich gehörte. Nicht solange der blaue Himmel wieder hinter den Wolken
hervorkam. Nicht solange ich träumen konnte, ich wäre ein Vogel und
würde am Himmel wohnen.
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