Viel Spaß beim Lesen. :)
Wort: Liebe
Wörter: 1241
Lieblos, liebevoll
Ich wusste von Anfang an, dass etwas mit mir nicht
richtig war, dass ich anders war. Ich wusste das schon als kleines
Kind. Ich fühlte es einfach. Fühlte, dass da irgendetwas in mir
war, dass die anderen Kinder nicht hatten.
Ganz am Anfang machte es mich traurig. Ich wollte nicht
anders sein. Ich wollte sein wie sie. Ich wollte dazugehören.
Doch je älter ich wurde, umso mehr wusste ich meine
Andersartigkeit zu schätzen. Ich begann sie zu verstehen und
erkannte, dass sie ein Privileg, ein Geschenk, eine Gabe war. Ich
sollte sie nutzen und nicht verachten oder mich dadurch
ausgeschlossen fühlen. In gewisser Weise war ich ausgeschlossen,
aber in dem Sinne, dass ich über allen anderen Stand. Ich war besser
als sie, besser als sie alle.
Lange Zeit wusste ich aber nicht, wie ich das Besondere
an mir, nutzen konnte. Es war da, das fühlte ich. Nur wie aktivierte
ich es? Wie setzte ich diese Kraft in mir frei? Fehlte mir etwas?
Würde es mit der Zeit kommen?
Vorerst entschied ich, zu warten. Etwas anderes blieb
mir auch nicht groß übrig. Denn ich wusste ja nichts zu tun. Ich
wusste nichts von der Welt. Ich war noch zu klein, zu unerfahren, zu
dumm. Ich konnte nur warten. Warten, warten, warten.
Es nervte mich, wie nichts anderes. Es gab nur eine
Sache, die mich mehr nervte. Eine Person, genauer gesagt. Mein
älterer Bruder Kyle.
Kyle war, wie alle anderen, niemand besonderes. Er war
nicht so wie ich. Ich hätte es gespürt, wenn er besonders wäre,
auf meine oder eine andere Art. Aber er war es nicht. Er war ein ganz
normaler Mensch. Irgendwie war er aber auch kein ganz normaler
Mensch. Er war nicht anders, nicht besonders. Aber er war... heller?
Mir fiel kein anderes Wort, keine andere Beschreibung dafür ein.
Was auch immer es war, es war zum Kotzen. Was sollte
das? Wieso war er etwas besonderes, obwohl er nichts besonderes war?
Ich verstand das nicht. Ich wollte es auch nicht verstehen. Ich
wollte, dass es wegging!
Noch nerviger als vorher schon wurde es, als wir in die
Schule kamen. Es war ein Elitegymnasium für Hochbegabte. Der Titel
allein sagte aber nichts aus, mal abgesehen von den ganzen versnobten
und verwöhnten, reichen Kindern, die sich allesamt für was besseres
hielten, obwohl sie es nicht waren. Wenn man selbst wusste, dass man
besser war, waren diese ganzen Möchtegerns wirklich lächerlich.
Der Lächerlichste aber war Kyle, weil er nicht einmal
lächerlich war. Eigentlich war ich dann der Lächerliche, weil ich
mich über seine nicht vorhandene Lächerlichkeit ärgerte, oder?
Wie auch immer. Die Schule steigerte meine Wut auf ihn
immer weiter und weiter. Es waren nicht mehr nur Momente, in denen
ich ihn dafür hasste, wie er war. Jetzt waren es mehrere Stunden am
Tag.
Das Einzige, was mir ein bisschen Befriedigung
verschaffte und mich meine Wut aushalten und nicht an ihm abreagieren
ließ, war die Tatsache, dass er nichts von meinem Hass auf ihn
wusste. Und auch sonst wusste es keiner. Ich konnte ihn still vor
mich hinhassen, ganz allein, bis ich eines Tages schlau und stark
genug sein würde, um all meinen Hass in eine Waffe gegen ihn zu
verwandeln. Das war mein Ziel: Ihn mit meinem Hass auszulöschen.
Solange gab ich mich damit zufrieden, dass wir rein vom
äußeren Auftreten und von der Wirkung, die wir auf unsere
Mitschüler hatten, gar nicht so verschieden waren. In jedem Fall war
er nicht besser als ich. Das konnte er gar nicht. Mochte sein, dass
er besser, heller als die anderen war, aber er war nicht besser als
ich. Nein, absolut nicht.
Jetzt, wo Unterrichtspause war, standen genauso viele
Mitschüler um ihn herum, wie um mich. Ihn umringten genauso viele
Mädchen und Jungen, wie mich. Ich hatte nachgezählt. Er war nicht
besser als ich.
Doch während ich mit meiner Gruppe und er mit seiner
Gruppe redete, konnte ich es trotzdem nicht lassen, immer wieder zu
ihm rüber zu sehen. Ich hasste seine Art, seine Helligkeit. Mit
seinem strahlenden Lächeln schien er alle zu blenden. Sie folgten
ihm doch nur, weil er leuchtete. Hörten ihm nur zu, weil jedem
seiner Worte dieses gewisse Licht innewohnte.
Nein. Nein, ich blendete meine Leute. Ich blendete sie
mit meiner dämonischen Dunkelheit, die so tief und rein war, dass
diese dummen Menschen sie mit Licht verwechselten. Sie folgten mir
nur, weil sie diese Dunkelheit für Licht hielten, weil sie mich
strahlen sahen, obwohl ich in Wirklichkeit finsterer nicht sein
könnte. Ich führte sie hinters Licht, im wahrsten Sinne des Wortes.
Sie hörten mir nur zu, weil die Dunkelheit meiner Worte so dunkel
war, dass sie wie Licht klang.
Ich war froh, um diese Fähigkeit. Oh, wie froh ich war.
Es wäre schrecklich allein im Dunkeln dazustehen. Amélie, Kyles
Zwillingsschwester, sie stand alleine im Dunkeln da und wusste nicht
wohin, das arme Mädchen. Aber ich nicht. Ich war besser, stärker,
besonderer. Amélie war auch besonders, aber nur zum Teil. Ich war
doppelt so besonders wie sie, doppelt so stark.
Und Kyle, Kyle besaß bloß reines Licht. Es war nicht
einmal Engelslicht. Nein, Engel vergaben ihr Licht nicht an Menschen.
Ich hatte noch keinen einzigen Menschen mit Engelskraft gesehen und
mit meinem Dämonenfähigkeiten würden ich es sehen. Kyles Licht war
bloß reinste Menschlichkeit, Unschuld. Das war es, was ihn anziehend
für die Menschen machte.
Ich sah wieder zu ihm rüber, beobachtete ihn, wie er
lächelte und lachte. Alles, was ich konnte, hatte ich von ihm
gelernt. Es war ironisch. Ich hasste ihn so sehr, hasste seine
strahlende Menschlichkeit und doch hatte ich mir genau das abgeguckt
und verhielt mich wie er, damit die Leute mich mochten.
Mochten. Sie mochten mich nicht einmal. Sie dachten nur,
dass sie mich mochten. Es war frustrierend, furchtbar frustrierend
und deswegen hasste ich Kyle immer mehr. Er musste nichts tun, nichts
spielen. Er war er selbst und die Leute mochten ihn dafür. Nein, sie
mochten ihn nicht. Oh, sie mochten ihn nicht bloß. Sie liebten ihn.
Sie liebten ihn, manche mehr, manche weniger, nur einige aus vollem
Herzen. Aber sie liebten ihn. Weil er liebevoll war. Nicht liebevoll
im Sinne von zärtlich, sondern im Sinne von voller Liebe. Kyle war
voller Liebe und jeder konnte das sehen, konnte es fühlen und er
schenkte sie jedem, diese Liebe und bekam sie von jedem zurück. Er
war nicht bloß beliebt, er wurde geliebt.
Währenddessen trug ich eine Maske. Ich versteckte mich
hinter Licht und es war zum Kotzen! Ich wollte auch ich selbst sein.
Ich wollte auch geliebt werden. Aber ich würde nie geliebt werden,
niemals. Denn um geliebt zu werden, musste man lieben. Ich konnte
nicht lieben, Dämonen konnten das nicht und würden es nie können.
Ich war leer. Ich war lieblos. Ich war ohne Liebe. Ich besaß zwar
ein schlagendes Herz, aber es war bloß ein Organ. Liebe kannte ich
nicht, würde ich nie kennen. Alles würde immer nur ein billiger
Abklatsch von Liebe sein. Ein billiger Abklatsch von Kyle.
Deshalb hasste ich ihn. Deshalb würde ich ihn
auslöschen. Seine Liebe machte mich krank, drohte mich zu ersticken
und sein Licht drohte mich zu verbrennen. Bevor das passieren konnte,
musste ich ihn mit meiner Dunkelheit töten.
Und das würde ich tun. Ich musste nur warten. Warten,
bis ich alt genug war und meine Kräfte erwachen würden. Warten, bis
der richtige Moment gekommen war. Warten und mich in Geduld üben.
Warten...
Aber das würde es wert sein. Am Ende würde meine Rache
all das Warten wert sein.
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