Keine Ahnung, beurteilt selbst. ;D
Wort: Buch
Wörter: 1052
Buchstabensuppe
Mein Leben war alles andere als schön. Sicher hatten es
einige um einiges schlechter, aber schöner wurde mein Leben dadurch
trotzdem nicht. Ich will auch gar nicht meckern, eigentlich
zumindest. Es gab ja auch schöne Momente, sehr schöne Momente
sogar.
Die Nachbarin, deren Wohnung sich auf der gleichen Etage
wie die meiner Familie befand, schenkte mir immer Bücher und wenn
ich nach der Schule nach Hause kam und mir niemand die Tür
aufmachte, durfte ich bei ihr rein und das im Fernsehen schauen, was
ich schauen wollte. Aber nur, bis mein älterer Bruder nach Hause
kam.
Er war schon 20, ganze zehn Jahre älter als ich. Er
arbeitete immer sehr lange, weil Mama das nicht mehr konnte und Papa
nicht mehr da war.
Ich sollte aber nicht die ganze Zeit nur fernsehen,
meinte die Nachbarin. Sonst würde nichts aus mir werden, sagte sie.
Das war, als ich vier war und noch nicht in die Schule ging. Es ist
eine meiner ersten richtigen Erinnerungen. Eine Woche nachdem sie das
gesagt hatte, wurde ich schon fünf. Ich war wieder bei ihr, weil
Mama zu schwach war, um zur Tür zu gehen. Sie war sehr krank. Aber
ich wusste ja, wo ich hin konnte.
Die Nachbarin wusste, dass ich Geburtstag habe und nahm
mich ganz fest in den Arm. Sie sagte, dass sie eine Überraschung für
mich hat und führte mich in die kleine Küche. Auf dem Tisch stand
ein kleiner Kuchen mit fünf Kerzen drin und ein großes Paket lag
auf dem Tisch. Es war eigentlich gar nicht so groß, aber damals kam
es mir sehr groß vor.
Ich blies freudig die Kerzen aus, bedanke mich ganz oft
und aß brav erst ein Stück von dem Kuchen. Ich war gut erzogen
worden. Das Geschenk war nicht das Wichtigste. Trotzdem konnte ich
beim Essen nicht aufhören, es anzustarren. Ich wollte so gerne
wissen, was sich unter dem Papier verbarg.
Die Nachbarin lachte und sagte, ich dürfte es jetzt
aufmachen. Begeistert nahm ich es an mich, bemühte mich aber die
Klebestreifen ganz vorsichtig zu lösen. Das Papier durfte man ja
nicht kaputt machen. Als ich das endlich geschafft hatte und der
Inhalt des Geschenks zum Vorschein kam, machte ich große Augen.
„Ein Buch“, sagte ich erstaunt.
„Nicht ein Buch, dein Buch“, lächelte die
Nachbarin.
„Aber ich kann doch gar nicht lesen“, meinte ich und
war enttäuscht. Was sollte ich denn mit einem Buch? Es standen ganz
viele im Regal meiner Mutter und ich kannte natürlich Bilderbücher
aus dem Kindergarten. Aber das Buch in meinen Händen war so dick und
schwer und der Einband war nicht bunt. Ich wusste, dass das kein
Bilderbuch war.
„Du meinst, du kannst noch nicht lesen“, korrigierte
die Nachbarin mich.
„Aber es dauert doch noch so lange, bis ich in die
Schule komme und es lerne.“ Missmutig schaute ich das Buch an.
Jetzt wusste ich zwar, was sich unter dem Papier verborgen hatte,
aber das eigentliche Geschenk kannte ich trotzdem nicht, weil ich
nicht lesen konnte. Noch nicht. Noch nicht?
Mit leuchtenden Augen blickte ich die Nachbarin an. „Du
wirst es mir beibringen, das Lesen?“
Sie nickte lächelnd. „Ja.“
Von da an ging ich nach dem Kindergarten immer direkt zu
ihr. Meine Mutter und mein Bruder wussten Bescheid. Am Anfang war es
nicht so toll. Lesen war gar nicht so leicht, dabei kannte ich sogar
schon ein paar Buchstaben und Wörter aus dem Kindergarten.
Doch schon am dritten Tag rannte ich die Treppen nach
oben, nachdem die Mutter meiner Freundin mich vor dem
Mehrfamilienhaus abgesetzt hatte. Ich konnte es kaum erwarten, neue
Buchstaben, neue Worte zu lernen. Ich wollte endlich die ganzen Sätze
in meinem Buch kennenlernen.
Eines Tages war es dann soweit. Es war kurz vor meiner
Einschulung. Ich war jetzt schon sechs Jahre alt. Zum Geburtstag
hatte die Nachbarin mir noch ein Buch geschenkt. Nicht ein Buch, es
war jetzt mein Buch. Es war nicht so dick, wie das Große, mit dem
wir übten, aber es war doch ziemlich dick und nur gefüllt mir
Worten, ganz vielen, kleinen Worten.
Aber inzwischen liebte ich diese Worte. Jetzt, wo ich
sie kannte, gehörten sie alle mir. Es waren jetzt meine Worte.
Als ich an jenem Tag kurz vor meiner Einschulung zu der
Nachbarin ging, sagte sie mir, dass sie mich heute nicht unterrichten
konnten. Ich war verwirrt und traurig, doch dann sagte sie, dass ich
von jetzt an selber lernen sollte. „Versuche das Buch zu lesen“,
sagte sie. „Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort, Satz für
Satz, Seite für Seite.“
Voller Begeisterung riss ich die Augen auf, sah das Buch
an, sah die Nachbarin an und konnte zuerst gar nicht glauben, dass
sie das ernst meinte. Doch sie sagte, ich wäre soweit. Also setzte
ich mich hin und begann zu lesen.
Wie am Anfang das Lernen der Buchstaben und Wörter, war
auch das Lesen am Anfang sehr schwer und ich wollte schon nach drei
Sätzen aufgeben, weil ich die Sätze irgendwie falsch las, denn sie
klangen doof und bei der Nachbarin hatten sie immer so schön
geklungen.
Doch ich wollte nicht aufgeben. Ich wollte wissen, was
dieses Geschenk war. Ich wollte den Inhalt, das Geheimnis dieses
Buches erforschen.
Es dauerte nicht lange, da merkte ich gar nicht mehr,
wie die Zeit verstrich. Oft waren die Sätze zwar etwas komisch,
manchmal einfach weil sie sehr lang waren und ich verstand nicht
alles, aber ich mochte die Buchstabensuppe auf den Seiten. Ich mochte
den Klang der einzelnen Wörter. Ich mochte, wie alles sich irgendwie
zusammenfügte und einen Sinn ergab, dabei waren es eigentlich nur
Buchstaben.
Von da an las ich jeden Tag, oft sogar heimlich in der
Nacht oder ich stand extra früher auf, um noch vor dem Kindergarten
und später vor der Schule lesen zu können. Für dieses erste Buch
brauchte ich sehr lange, aber ich war sehr stolz, als ich es
durchgelesen hatte. Ich hatte lesen gelernt. Ich konnte jetzt lesen.
Und Lesen war ein bisschen wie Magie. Ich hatte Magie gelernt.
Ich liebte es, das Lesen, die Magie, die
Buchstabensuppe. Es war so aufregend und nie gleich. Obwohl die
Wörter oft die Gleichen waren, war es jedes Mal anders. Andere
Welten, andere Leben, andere Abenteuer.
Es war ein unendliches Meer aus Worten, zusammengesetzt
aus Buchstaben. Buchstabensuppe und Wortenmeer. Ich würde nie mehr
aufhören, darin zu schwimmen.
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