Montag, 4. Mai 2015

52/52 Challenge: Sonnenmomente

Und Nr. 22. :D
Wieder Fanfiktion, erneut Free! ;D
Viel Spaß beim Lesen.

Wort: Sonne
Wörter: 3966


Sonnenmomente

Harus Sicht
Als ich in die psychiatrische Klinik eingewiesen wurde, gab es keine Sonne in meinem Leben. Alles war dunkel. Ich konnte keinen Farben mehr sehen. Es gab sie einfach nicht mehr für mich. Ich konnte mich an sie erinnern und ich konnte mich auch an schöne Gefühle und schöne Momente erinnern. Aber selbst das, was einst schön gewesen war, war jetzt dunkel.
Am Anfang hatte ich Angst gehabt, unheimliche Angst. Was, wenn es nie wieder hell werden und für immer dunkel bleiben würde? Was würde dann aus mir werden? Würde ich sterben?
Irgendwann verschwand meine Angst. Ich fürchtete die Dunkelheit nicht länger. Vielleicht war es sogar besser. Vielleicht waren die meisten Dinge so – dunkel. Vielleicht war diese dunkle Welt die wahre Welt und ich hatte es bisher nur nicht gewusst.
Also nahm ich sie hin, die Dunkelheit, die Farblosigkeit und verlor mich in diesem Nichts.
Die Welt und das Leben sind grausam, das habe ich gelernt. Es ist eine Tatsache. Ich konnte das Schöne nicht mehr sehen, konnte es nicht mehr fühlen und es störte mich nicht einmal. Ich nahm es hin, akzeptierte es. Ich dachte gar nicht darüber nach, es zu ändern. Am Anfang hatte ich das. Ich hatte die Angst bekämpfen wollen, aber ich hatte keinen Weg gefunden. Es gab auch wahrscheinlich keinen Weg, das wusste ich jetzt.
Ich merkte gar nicht, dass ich aufhörte zu essen und zu schlafen. Die meiste Zeit lag oder saß ich irgendwo und starrte vor mir hin. Nichts hatte eine Bedeutung, denn alles war nichts. Ich war nichts. Die Dunkelheit war nichts. Nichts.
Mein bester Freund, Makoto bemerkte schließlich, wie es um mich stand und rief meine Eltern an. Gemeinsam brachten sie mich in die Klinik. Ich hatte nichts dagegen. Warum auch? Es hatte schließlich keine Bedeutung. Nichts hatte mehr eine Bedeutung.
Ich winkte ihnen, als sie wieder wegfuhren und mich in der Klinik ließen. Sie sahen sehr traurig aus.
Die meisten anderen Jugendlichen in der Klinik sahen kaputt aus. Nicht kaputt im Sinne von erschöpft, wobei sie wohl auch das waren, aber vor allem seelisch kaputt. Natürlich, sonst wären sie nicht in der Klinik. Ich fragte mich, wie ich wohl für andere aussah. Auch so kaputt? Denn anscheinend war ich das ja, auch wenn das, was mir passiert war, deutlich undramatischer war, als so manche Geschichte, die ich hörte.
Doch all diese Geschichten bestätigten mich eigentlich nur in dem, was ich dachte. Sie bestätigten die Dunkelheit, gaben ihr neue Nahrung, noch bessere Begründungen. Langsam vergaß ich, wie es ohne diese Dunkelheit war.
Manchmal saß ich in meinem Zimmer auf der Fensterbank und starrte nach draußen. Es war Sommer und die Sonne schien, aber ich konnte sie weder richtig sehen noch richtig fühlen. Alles war dumpf und dunkel. Bald würden so auch all meine Erinnerungen sein und ich würde es ganz vergessen, das Schöne und das Helle.
Mein Psychiater und die Betreuer konnten auch nichts dagegen tun. Sie hätten mir Pillen geben können, aber das wollte ich nicht. Ja, Glückspillen würden mich glücklich machen, aber das wäre ja nur vorgetäuscht. Auch das gab der Dunkelheit wieder Bestätigung. So ist die Welt, sagte sie. Alles ist nur vorgetäuscht und falsch. Helligkeit, Farben, das gibt es alles nicht. Nur mich, die Dunkelheit.
Somit war alles, was sie in der Klinik taten, mich am Leben erhalten. Sie zwangen mich zu essen und zu schlafen. Die Vitamintabletten und die Schlaftabletten nahm ich, dagegen hatte die Dunkelheit nichts. Es änderte auch nichts. Mein Körper wurde wieder etwas kräftiger, aber das war der Dunkelheit egal.
Abgesehen vom Essen und Schlafen war die Klinik der absolut falsche Ort für mich. Es gab viel zu viel, wovon die Dunkelheit sich nähren und wachsen konnte. Aber woanders hätte sie sich wohl auch ihre Quellen gesucht. Es war ohnehin egal. Dunkelheit war Dunkelheit.
//
Eines Tages, ich war bestimmt schon zwei Wochen in der Klinik, kam jemand neues in unsere Therapiegruppe. Seine Haare besaßen die Farbe von Magenta. Mein Blick hing eine Weile an ihnen fest. Es war eine so intensiv Farbe, die es nicht oft zu sehen gab. Für einen kleinen Moment wünschte ich, ich könnte sie richtig sehen und fühlen, ohne den Schatten der Dunkelheit.
„Stell dich doch kurz vor“, lächelte die Therapeutin, die als Leiterin der Gruppensitzung fungierte.
Er stellte sich an eine freie Stelle im Stuhlkreis und räusperte sich. „Ich bin Rin. Rin ist zwar ein Mädchenname, aber ich bin ein Junge.“ Es klang auswendig gelernt, als hätte er es vorher geübt oder schon zu oft gesagt.
„Hallo Rin“, begrüßte ihn die Gruppe im Chor. Ihm schien es etwas unangenehm zu sein, er senkte den Blick und setzte sich auf den freien Platz.
Aus irgendeinem Grund konnte ich den Blick nicht von ihm lösen. Es musste irgendwie an seinen Haaren liegen. Die Farbe löste etwas in mir aus. Oder war das er? Ich war verwirrt. Zum ersten Mal seit Langem war ich verwirrt. Ich merkte gar nicht, dass Verwirrung ein Gefühl war und ich demnach gerade etwas fühlte.
Stattdessen dachte ich mit einem Mal an die Sonne und ihr gleißendes Licht und das Gefühl, das sie früher für mich gehabt hatte.
Rin sah mich an, er hatte mein Starren wohl bemerkt. Ich sollte wegsehen. Doch ich tat es nicht. Ich stellte mir vor, dass sein Blick auf mir wie Sonnenstrahlen war, so wie sich Sonnenstrahlen früher angefühlt hatten. Sie hatten leicht gekribbelt und ein wenig gekitzelt. Sie war warm, schön und belebend gewesen.
Ich war noch immer verwirrt. Was war los? Warum dachte ich an so etwas, wenn ich diesen fremden Jungen ansah? Warum schien mir die Dunkelheit in diesem Moment genauso unbedeutend, wie sie sonst alles andere unbedeutend machte?
Lag es an seiner Person? Hatte er eine solch starke Präsens? Erinnerte er mich an irgendetwas, vielleicht das Magenta seiner Haare oder die rote Farbe seiner Augen?
Die Therapeutin forderte Rin auf, ein bisschen über sich zu erzählen und als er wegsah, schaffte auch ich es wegzusehen.
Benommen blinzelte ich. Wieder ein Gefühl, das ich in dem Moment nicht als solchen registrierte. Was war nur los?
Ich schaute mir die anderen Mitglieder der Gruppe an. Sie sahen Rin an. Natürlich, er sprach ja auch gerade. Ob er eine ähnliche Wirkung auf sie hatte, wie auf mich?
Ich wusste es nicht. Ich hatte noch nie viel andere Menschen beobachtet. Die meiste Zeit war ich stets mit meinem Inneren beschäftigt gewesen, auch wenn davon wenig nach außen gedrungen war. Deswegen hatten meine Mitmenschen auch erst so spät bemerkt, dass etwas mit meiner Psyche los war.
//
Eine Woche nachdem Rin in die Klinik gekommen war, boten sie eine neue Aktivität an. Die alte Schwimmhalle war renoviert worden, demnach hieß das neue Angebot ''Schwimmen''. Es wurde uns in einer Gruppensitzung mitgeteilt.
Aus irgendeinem Grund blickte ich nach der Verkündung zu Rin. Seine Augen glänzten oder strahlten sie? Wahrscheinlich eine Mischung aus Beidem. Ich hatte ihn in der einen Woche des öfteren beobachtet. Das war mein neues Hobby neben dem Aus dem Fenster Starren. Das neue Angebot freute ihn, aber es machte ihn auch irgendwie traurig. Ich fragte mich, warum.
Nach der Sitzung trug er sich für die neue Aktivität Schwimmen ein und verließ dann rasch den Raum. Ich blieb vor dem Zettel stehen. Es hatten sich noch ein paar andere eingetragen. Aber es waren noch nicht viele.
Meine Finger schlossen sich um den Stift, der neben dem Zettel an einen Faden gebunden an der Pinnwand hing. Ich schrieb meinen Namen unter den von Rin.
Zwei Tage später war es soweit – die erste Schwimmstunde. Ich konnte schwimmen. Immerhin lebte ich in Japan, was praktisch nur aus Inseln bestand. Aber ich war lange nicht mehr geschwommen. Das letzte Mal muss irgendwann im Urlaub mit meinen Eltern gewesen sein, als ich 10 war, glaube ich.
Die Schwimmsachen – Badehose, Taucherbrille und Badekappen – mussten wir kaufen. Die Leute, die für uns zuständig waren, waren darüber noch gestern per E-Mail benachrichtigt worden. Manche mussten auch selber bezahlen, weil sie schon erwachsen waren und die volle finanzielle Verantwortung für sich selbst trugen.
Der Trainer – ein richtiger Schwimmtrainer aus einem örtlichen Verein – wollte zuerst herausfinden, auf welchem Stand wir uns befanden und forderte uns auf, uns in Reihen aufzustellen und jeder sollte jeweils zwei Bahnen schwimmen.
Rin hatte sich in die Reihe am zweiten Startblock eingereiht, ich stand in der Reihe des Ersten. Ich zählte die Personen, die vor ihm und vor mir dran waren. Wir würden gleichzeitig schwimmen. Fast wollte ich lächeln, was wieder die Verwirrung auf den Plan rief. Warum interessierte es mich, ob ich mit diesem fremden Jungen gleichzeitig schwamm? Warum interessierte er mich überhaupt? Mich hatte ja schon lange nichts mehr interessiert.
Aber mich interessierte offenbar auch, warum Rin so gemischte Gefühle wegen dem Schwimmen hatte. Warum sonst hätte ich mich auch dafür eintragen sollen? Warum sonst beobachtete ich Rin ganz genau, als es an ihm war, auf den Startblock zu steigen und zu schwimmen?
Da seine Vorgänger insgesamt etwas schneller gewesen waren als meine, stieg er vor mir auf den Startblock. Er setzte seine Schwimmbrille auf und zerrte das Gummi am Hinterkopf nach hinten, sodass es, als er losließ, gegen seinen Hinterkopf schlug. Warum tat er das? Das tat doch sicher weh.
Viel wichtiger aber war, wie professionell seine Haltung war, als er sich auf dem Startblock positionierte. Er stand nicht einfach nur da, sondern platzierte einen Fuß vorne und einen hinten und die Hände schloss er vorne um den Startblock, sodass er nach vorne gebeugt war und sich abstoßen konnte.
Ich wünschte, ich könnte sein Gesicht sehen, dann könnte ich... könnte ich...
In der Sekunde, in der sein Vorgänger die Wand des Pools unter dem Startblock berührte, sprang Rin ins Wasser und ich hatte zwar keine Ahnung davon, aber seine Form sah perfekt aus. Er musste in der Schule schwimmen und bei Wettkämpfen dabei sein, denn er schwamm auch unfassbar schnell.
„Du bist dran“, meinte jemand hinter mir und ich zuckte leicht zusammen. Ich war so auf Rin konzentriert gewesen, dass ich gar nicht mitbekommen hatte, dass mein Vorgänger bereits im Wasser war und sogar schon fast wieder zurück war. Rin hatte bereits über die halbe Bahn hinter sich gebracht.
Hastig stieg ich auf den Startblock und versuchte mich ähnlich zu positionierten wie er. Ich sprang, als ich glaubte, dass mein Vorgänger die Poolwand unter mir berührte.
Plötzlich umgab mich das kühle Nass des Wassers und ich erschrak, weil es sich so real, so echt anfühlte. Nichts daran war dumpf und nichts daran war dunkel. Es fühlte sich... gut an. Automatisch begann ich zu kraulen, als hätte ich mein Leben lang nichts anderes gemacht.
Ich sah Rin an mir vorbei schwimmen. Unsere Blicke trafen sich kurz und da war Sonne in seinen Augen. Sonne im Sinne von einem begeisterten, erfreuten Strahlen. Und er lächelte. Ich war mir sehr sicher, dass er lächelte.
Doch der Moment war furchtbar schnell vorbei und ich schwamm weiter und wäre fast gegen die Poolwand auf der anderen Seite gestoßen. Wie man professionell die Richtung wechselte, wusste ich nicht. Das hatte ich bei Rin nicht gesehen, weil ich da schon im Wasser gewesen war. Irgendwie bekam ich es hin und schwamm zurück auf die Seite, von der ich gekommen war.
Es fühlte sich so leicht, so natürlich an – das Schwimmen. Wie atmen. Ich musste nicht groß darüber nachdenken. Ich tat es einfach. Und doch war es so viel realer, als zu atmen. Dass man atmete, bemerkte man oftmals nicht, derartig reflexhaft lief es ab. Schwimmen war da eher mit Laufen zu vergleichen. Bloß das Schwimmen sich eher wie Schweben anfühlte. Laufen war oft anstrengend. Einen Fuß vor den anderen zu setzen, war mühsam. Zu schwimmen fühlte sich an als würde man auf einer Wolke über die Welt gleiten.
Ich wollte gar nicht wieder aus dem Wasser raus und blieb kurzerhand noch ein bisschen im Pool. Allerdings musste ich raus, bevor die Person nach mir fertig war, also hievte ich mich gezwungenermaßen aus dem Wasser. Ich mochte es, wie es von mir abperlte und wie die Nässe meine Haare auf meine Haut presste. Ich mochte alles daran.
Ähnlich erschrocken, wie ich gewesen war, als ich ins Wasser eingetaucht war, war ich auch jetzt, als mit einem Mal Rin vor mir stand. Er lächelte mich an. Sein Lächeln war unglaublich. Es war wie die Sonne und seine Augen strahlten mit ihm um die Wette.
„Du schwimmst echt unglaublich. Bist du an deiner Schule im Schwimmclub?“, fragte er direkt heraus. So war er, direkt. Das hatte ich in der letzten Woche, als ich ihn beobachtet hatte, herausgefunden.
Ich brauchte einen Moment, bis ich antworten konnte. „Nein, ich bin noch nie in einem Schwimmclub gewesen. Du bist aber in einem, oder?“
„Ja, in der Schule“, erwiderte er sogleich. Das war das erste Mal, dass wir miteinander sprachen und wir redeten lange und viel, nach den zwei Stunden Schwimmen versteht sich.
//
Nachdem wir das erste Mal miteinander geredet hatten, tat es wir es öfter und mehr und immer öfter und immer mehr. Wir wurden Freunde.
Wie so vieles, merkte ich das zuerst gar nicht. Aber als wir eines Tages nach dem Mittagessen durch den kleinen Park, der zur psychiatrischen Klinik gehörte, spazierten und uns dabei unterhielten, fühlte ich die Sonne.
Seit Rin und ich das erste Mal miteinander gesprochen hatten, hatte es viel geregnet und die Sonne hatte sich kaum gezeigt, obwohl Sommer war. Mich hatte es nicht weiter gestört, so wie nichts mich eigentlich sonderlich störte, seit alles dunkel war.
Doch es war nicht länger dunkel, stellte ich jetzt fest. Ich fühlte die Sonne und als ich aufblickte und den Kopf in den Nacken legte, um hoch in die Sonne zu sehen, war sie hell. Nichts an ihr war dunkel. Zittrig atmete ich ein.
„Haru? Alles in Ordnung?“ Wie ich war Rin stehen geblieben. Wegen mir war er stehen geblieben. Ich wandte mich ihm zu und lächelte. Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit lächelte ich.
Rin blieb der Atem weg. Das sah ich daran, wie er einmal tief einatmete und danach nicht mehr ausatmete. Seine Lippen teilten sich, während er mich starrte. Und ich konnte nur lächeln. Ich lächelte und lächelte und lächelte. Mit einem Mal wollte ich weinen.
Kurz bevor ich in Tränen ausbrechen konnte, legten Rins Hände sich um mein Gesicht. Sein Gesicht kam näher. Ich hatte nicht genug Zeit, um mich zu fragen, was er vor hatte, denn da lagen seine Lippen schon auf meinen.
Wie als ich ihn das erste Mal gesehen hatte, war ich zuerst verwirrt. Doch gleich darauf durchströmte mich ein warmes Gefühl von Lebendigkeit. Das war das Stärkste, das ich seit einer unendlich langen Zeit gefühlt hatte. Vielleicht das Stärkste, was ich jemals gefühlt hatte. Seine Lippen waren so weich und passten wunderbar auf meine und seine Zunge war warm und schlüpfrig, aber auch vorsichtig und zärtlich.
Ich schmiegte mich an ihn, legte die Hände auf seine Brust, grub die Finger in sein Oberteil und es kam mir vor, als wäre die Sonne, die oben am Himmel so hell schien und deren Strahlen so kribbelnd und kitzelnd auf meiner Haut waren, jetzt in mir drin. Denn es kribbelte nicht bloß meine Haut. Alles kribbelte und alles war hell.
//
Einige Tage später saßen wir auf einer Bank in dem Park. Die Sonne schien wieder und es war angenehm warm. Unsere Hände lagen verschränkt zwischen uns und wir hingen jeder seinen eigenen Gedanken nach. Ein bisschen wartete ich darauf, dass er mich fragte, was ich dachte. Wenn er es gleich nicht tat, würde ich ihn fragen.
Doch ich musste ihn gar nicht fragen, denn keine Sekunde später sagte er mir, was er dachte. „Ich wäre jetzt gerne mit dir am Strand“, meinte er, wandte mir sein Gesicht zu und lächelte. Er hatte das schönste Lächeln überhaupt.
Ich lächelte etwas verhalten zurück und meine Wangen wurden warm, weshalb ich meinen Blick auf unsere Hände senkte. Bevor ich etwas erwidern konnte und ich wollte eigentlich etwas erwidern, ich wusste nur nicht was, redete er weiter.
„Wir würden den warmen Sand unter unseren Füßen spüren und wir würden im Meer schwimmen und die Sonne im Wasser versinken sehen.“
Als ich wieder zu ihm rüber sah, schaute er verträumt in die Ferne. Doch er bemerkte meinen Blick und sah wieder mich an und lächelte.
Anstatt etwas auf seine Worte zu erwidern, lehnte ich mich zu ihm rüber und küsste ihn. Küsse sagten mehr als Worte, so viel mehr.
Wir küssten uns eine kleine Weile, bis Rin wieder etwas sagte. „Haru, wenn wir hier raus sind, lass uns zusammen ans Meer fahren, ja?“
Ich nickte. „Das klingt wundervoll.“ Ich legte meinen Kopf auf seine Schulter und betrachtete die tiefstehende Sonne. Sie war noch immer hell. Alles war hell. Rin war hell. Er war meine Sonne.
//
Drei Wochen später wurde Rin aus der psychiatrischen Klinik entlassen. Er verabschiedete sich mit den Worten, dass er seine schnelle Heilung vor allem mir zu verdanken hatte, was ich überhaupt nicht glauben konnte, aber Rin war ein durch und durch ehrlicher Mensch und er strahlte, als er es mir sagte. Demnach musste es die Wahrheit sein.
„Bald kommst du auch hier raus und dann fahren wir zusammen ans Meer“, lächelte er und küsste mich lange, bevor er ging.
Dann war er weg.
Und die Sonne, meine Sonne mit ihm.
Es wurde wieder dunkel, sehr viel schneller, als mir lieb war. Durch Rin, der mich wieder lebendig, mir wieder Farben und Gefühle geschenkt hatte, hatte auch endlich die Therapie bei mir angeschlagen. Ich hatte einen Grund gehabt, ein Ziel und vor allem hatte ich wieder einen Sinn in allem gesehen. Und ich wollte schwimmen. Am liebsten wollte ich schwimmen und nie mehr damit aufhören.
Es lief also gut und auch nachdem Rin weg war, lief es eine kleine Weile noch gut.
Aber dann kam die Dunkelheit zurück. Wie als es damals angefangen hatte, überkam mich Angst und ich erzählte meinem Therapeuten davon. Ich erzählte sogar in der Gruppe davon, obwohl ich nicht unbedingt der Gruppenmensch war. Nur Rin, mit dem ich jeden zweiten Tag telefonieren durfte, erzählte ich nicht davon.
Vielleicht war das der Fehler, denn nichts konnte die Dunkelheit aufhalten. Alles verlor wieder an Farbe und ich verlor meine Gefühle. Die Dunkelheit war schrecklich. Ich empfand sie nicht als schrecklich, weil sie mir meine Gefühle nahm. Aber anhand von allem, was ich vorher so intensiv gefühlt hatte und an das ich mich noch ganz klar erinnern konnte, wusste ich, wie schrecklich die Dunkelheit, dieses Nichts war.
Ich wollte die Dunkelheit nicht, wollte dieses Nichts, diese Bedeutungslosigkeit nicht. Ich wollte Helligkeit. Ich wollte Sonne. Ich wollte Rin.
Aber Rin war weg. Die Sonne, meine Sonne war untergegangen.
//
Es dauerte fast zwei Monate, bis meine Sonne wieder aufging.
Rin war auf ein spezielles Schwimminternat in Australien gegangen und konnte mich deshalb nicht besuchen kommen. Wenn wir telefonierten, hatte er immer viel zu erzählen.
Während dieser Telefonate fühlte ich ein wenig. Ich freute mich ehrlich für ihn und ich vermisste ihn, sehnte mich nach dem Licht seiner Sonne.
Aber er war weit weg und vielleicht würde ich ihn nie wiedersehen, nie wieder die Sonne in mir spüren. Einzig die Tlefonate, wenn ich seine Stimme hörte, ließen mich zumindest ein klein wenig weitermachen – weiter essen, weiter schlafen, weiter schwimmen und vielleicht sogar ein klitzekleines bisschen hoffen.
Ich war, wie so oft, mit aus dem Fenster starren beschäftigt, als es eines Nachmittags an meiner Zimmertür klopfte. „Herein“, sagte ich und drehte mich zur Tür. Ich riss die Augen auf. Rin stand im Türrahmen und lächelte mich mit seinem strahlenden Lächeln an. Es war, als würde die Sonne aufgehen, meine Sonne.
Ich sprang auf, lief zu ihm, schlang die Arme um ihn und drückte mein Gesicht an seine Brust. Die Tränen konnte ich nicht halten, zu heftig und intensiv waren die plötzlichen Gefühle. Rin streichelte mir übers Haar und küsste schließlich meine Stirn, dann meinen Mund. Es war, als würden seine Sonnenstrahlen auf mich übergehen und ein Feuer in mir wieder entfachen, mein Lebensfeuer.
„Komm mit“, flüsterte er an meinen Lippen, die ich nur widerwillig von seinen löste.
„Wohin?“ Eigentlich war es egal, ich würde überall mit ihm hingehen.
„An den Strand“, lächelte er.
Ich presste meine Lippen kurz wieder auf seine, überglücklich. Dann löste ich mich von ihm und packte ein paar Sachen in einen Rucksack. Wir schafften es, uns am Empfang vorbei zu schleichen und keine zehn Minuten später saßen wir in einem Bus Richtung Meer.
Die Sonne schien, ich fühlte sie auf meiner Haut und sah den blauen Himmel. Rin verschränkte unsere Hände miteinander und ich schaute ihn an, sein Strahlen und strahlte zurück. Erneut küssten wir uns. Danach legte ich meinen Kopf auf seine Schulter und nahm ihn nicht mehr hoch, bis wir das Meer erreichten.
//
Das Meer war das Lauteste, was ich je gehört und das Wunderschönste, was ich je gesehen hatte.
Natürlich war ich schon viele Male zuvor am Meer gewesen und es war immer schön gewesen. Aber heute sah ich es zum ersten Mal richtig. Besonders das Wasser sah ich zum ersten Mal, so wie es war. Früher hatte ich es nicht auf die Weise wahrgenommen, wie ich es jetzt tat. Ich hatte es nicht als das gesehen, was es war – meine Bestimmung, in gewisser Weise.
Ich lächelte bei dieser Erkenntnis. Rin neben mir war auch am Lächeln. Wir liefen Hand in Hand. Die Schuhe hatten wir ausgezogen und in meiner Tasche verstaut. Mir kribbelte es in den Fingern, meine Klamotten auszuziehen und ins Meer einzutauchen. Die Schwimmhosen hatten ich und Rin schon drunter. Doch für den Moment hatten wir bloß unsere Hosen hochgekrempelt und ließen das Meerwasser an unseren Füßen lecken.
„Du siehst wunderschön aus, wenn du glücklich bist“, sagte Rin.
Ich spürte seinen Blick auf mir und erwiderte ihn, lächelte ihn an. „Das habe ich dir zu verdanken.“
Rin schüttelte mit dem Kopf. „Durch dich habe ich es geschafft, mich wieder zusammenzusetzen, aber letztendlich habe ich es selbst getan und das musst du auch, Haru.“ Mit einem Mal war er sehr ernst und ich wusste, dass jemand ihm erzählt hatte, wie schlecht es mir in der letzten Zeit ergangen war. Aber ich war nicht verärgert deswegen. Ich hätte Rin selbst davon erzählen sollen. Er war der Einzige, der mich wirklich verstand.
„Ich weiß“, erwiderte ich, ebenso ernst. „Ich weiß bloß noch nicht wie.“
„Das Warum zählt mehr als das Wie. Denke an das Warum und du wirst jedes Wie meistern“, meinte er und lächelte etwas verlegen. „Das hat mir meine Therapeutin mal gesagt.“
„Klingt gut“, gab ich zurück und schaute hoch in die Sonne, allerdings nur kurz. Gleich danach fiel mein Blick wieder auf das Meer, dessen Wasser in der Sonne glitzerte. „Ich glaube, ich kenne jetzt mein Warum.“
Ich sagte es Rin nicht gleich und er fragte nicht gleich. Doch später, als wir schwammen und uns im Wasser küssten, sagte ich es ihm. „Es ist das Wasser. Das Wasser ist mein Warum. Auch du bist mein Warum, meine Sonne, aber das Wasser ist meine Luft und mein Antrieb, meine Bestimmung. Ich werde schwimmen. Wir werden zusammen schwimmen.“
Rin lächelte, führte unsere Lippen wieder zusammen und sagte: „Ja, das hört sich richtig an.“
Wir blieben bis zum Sonnenuntergang, als der Tag in den wundervollsten, buntesten Farben der Nacht wich. Doch mit der Sonne am Himmel ging meine Sonne nicht unter und selbst als die Farben verschwunden waren, konnte ich sie noch ganz deutlich fühlen. Auch als Rin wieder nach Australien ging und meine persönliche Sonne somit weg war, ging meine Sonne nicht unter und auch die Farben verblassten nicht, denn ich hatte meine eigene, innere Sonne gefunden und würde sie nie wieder untergehen lassen sowie ich die Farben immer in mir bewahren würde.

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