Viel Spaß beim Lesen.
Wort: Gedanke
Wörter: 767
Die Gedankenleserin
Das erste Mal
passierte es, als ich noch sehr jung war. Ich war damals sehr
verwirrt, als ich auf die ungesagten Worte antwortete und erschrocken
angesehen wurde.
Ich lernte sehr
schnell, dass ich vorsichtig sein musste, auf was ich antwortete und
zu was ich besser nichts sagte. Am Anfang konnte ich die ungesagten
von den gesagten Worten kaum unterschieden. Aber das wurde von Mal zu
Mal leichter.
Dennoch war es oft
sehr verwirrend. Manchmal unterschieden sich ihre gesagten Worte sehr
von ihren ungesagten. Auf welche Worte ich reagieren durfte und
musste, wusste ich. Aber welche Worte waren denn nun die Wahren?
Doch auch das fand
ich relativ schnell heraus. Die wahren Worte waren eigentlich immer
die ungesagten. Bei mir war das ja auch so. Schon allein deshalb,
weil ich auf die ungesagten Worte nicht antworten konnte und durfte.
Noch etwas
veränderte sich mit der Zeit. Als Kind hörte ich von Jedem in
meiner Nähe die ungesagten Worte. Je älter ich wurde umso weniger
Leute wurden es. Schließlich konnte ich nur noch von einer einzigen
Person in meiner näheren Umgebung die ungesagten Worte hören.
Welche Person das war, änderte sich jeden Tag.
Ich war ganz froh,
dass es nur noch eine Person war. Das machte das Konzentrieren um
einiges leichter. Denn tun konnte ich meist nichts. Was sollte ich
auch schon tun? Viele Menschen hatten belanglose ungesagte Worte oder
immer nur die Gleichen oder solche, die mich einfach nichts angingen.
Es ging mich ohnehin eigentlich nichts an.
Doch wenn die für
den Tag auserwählte Person so jemand wie einer meiner Eltern war,
konnte ich ihnen manchmal kleine Freuden machen und das war schon
schön.
Ansonsten hatte es
aber eher unzählige Schattenseiten. Natürlich versuchte ich, wenn
ich die ungesagten Worte depressiver Mitschüler hören konnte,
diesen Personen irgendwie zu helfen. Aber es war wirklich nicht
leicht. Wie sollte ich auch jemandem helfen, der mich gar nicht oder
nur sehr wenig kannte? Natürlich konnten diese Personen mir nicht
einfach vertrauen. Das würde ich an ihrer Stelle auch nicht tun.
Schon allein deshalb, weil ich bereits als Kind auch viele schlimme,
ungesagte Wörter gehört hatte.
Mit das Schlimmste
war, dass die ungesagten Worte von jemandem zu hören, diesem Jemand
alle Magie nahm. Nachdem ich Jemandes ungesagte Worte kannte, wenn
auch nur für einen Tag, zerstörte das jedes Mal meine Vorstellung
von dieser Person. Ich lernte sie dadurch unfreiwillig kennen und
zwar auch das, was sie anderen vorenthielten, gerade das.
Das war wohl mit
einer der Gründe, warum ich nicht viele Freunde hatte. Ich wollte
ihre ungesagten Worte nicht kennen. Nicht solange sie sie mir nicht
verraten wollten und sie somit keine ungesagten Worte mehr wären.
Es war ein Fluch.
Ich würde es eindeutig als Fluch bezeichnen.
Bis zu dem Tag, an
dem ich seinen ersten Gedanken hörte. Er arbeitete in einem Café in
der Nähe der Schule, auf die ich ging. Ich hatte ihn ein paar Mal
gesehen, als ich mir im Café etwas gekauft hatte und er gerade
Schicht hatte. Er war ganz niedlich, ziemlich mein Typ und er war
nett und hilfsbereit. Ich war schon ein bisschen verknallt in ihn und
würde ihn eigentlich ganz gerne näher kennenlernen.
Nur würde ich dann
früher oder später für einen Tag seine Gedanken zu hören bekommen
und darauf war ich nicht wirklich scharf.
Dieser Fluch, der
auf mir lag, behinderte mich beim Aufbau einer jeden längeren
Beziehung, ob es jetzt Freundschaft oder was in Richtung Liebe war.
Es war schrecklich. Ich war froh, dass es bei meinen Eltern halbwegs
okay war. Sie waren tolle Menschen, hatten zwar ihre Geheimnisse,
aber die waren erträglich. Wobei ich mich natürlich auch da vor dem
Tag fürchtete, an dem sich das änderte. Denn es kam auch vor, dass
ich die Gedanken einer Person, die ich schon einmal einen Tag lang
gehört hatte, an einem anderen Tag wieder zu hören bekam.
Oftmals waren es
aber Personen, mit denen ich absolut nicht rechnete, obwohl ich ja
wusste, dass es Jeden treffen konnte. Dass ich viele der Personen gar
nicht wirklich kannte oder einfach noch nie richtig bemerkt hatte,
war klar. Trotzdem war ich manchmal sehr überrascht, wen es trag.
Nicht zuletzt aus dem Grund, dass ich mich sehr oft fragte, warum ich
diese Fähigkeit oder wie immer man es nennen mochte, besaß.
Viel überraschender
als die Person selbst, waren aber oftmals die Gedanken an sich. Viele
verbargen so vieles von sich hinter einer Maske oder zeigten es
schlichtweg nicht nach außen.
Doch was mich bei
ihm, dem Jungen aus dem Café, so überraschte, war, dass sein erster
Gedanke an dem Tag war: „Ich weiß, dass du mich hören kannst.“
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