Dienstag, 9. Juni 2015

52/52 Challenge: Die Gedankenleserin

Nr. 48. :)
Viel Spaß beim Lesen.

Wort: Gedanke
Wörter: 767

Die Gedankenleserin

Das erste Mal passierte es, als ich noch sehr jung war. Ich war damals sehr verwirrt, als ich auf die ungesagten Worte antwortete und erschrocken angesehen wurde.
Ich lernte sehr schnell, dass ich vorsichtig sein musste, auf was ich antwortete und zu was ich besser nichts sagte. Am Anfang konnte ich die ungesagten von den gesagten Worten kaum unterschieden. Aber das wurde von Mal zu Mal leichter.
Dennoch war es oft sehr verwirrend. Manchmal unterschieden sich ihre gesagten Worte sehr von ihren ungesagten. Auf welche Worte ich reagieren durfte und musste, wusste ich. Aber welche Worte waren denn nun die Wahren?
Doch auch das fand ich relativ schnell heraus. Die wahren Worte waren eigentlich immer die ungesagten. Bei mir war das ja auch so. Schon allein deshalb, weil ich auf die ungesagten Worte nicht antworten konnte und durfte.
Noch etwas veränderte sich mit der Zeit. Als Kind hörte ich von Jedem in meiner Nähe die ungesagten Worte. Je älter ich wurde umso weniger Leute wurden es. Schließlich konnte ich nur noch von einer einzigen Person in meiner näheren Umgebung die ungesagten Worte hören. Welche Person das war, änderte sich jeden Tag.
Ich war ganz froh, dass es nur noch eine Person war. Das machte das Konzentrieren um einiges leichter. Denn tun konnte ich meist nichts. Was sollte ich auch schon tun? Viele Menschen hatten belanglose ungesagte Worte oder immer nur die Gleichen oder solche, die mich einfach nichts angingen. Es ging mich ohnehin eigentlich nichts an.
Doch wenn die für den Tag auserwählte Person so jemand wie einer meiner Eltern war, konnte ich ihnen manchmal kleine Freuden machen und das war schon schön.
Ansonsten hatte es aber eher unzählige Schattenseiten. Natürlich versuchte ich, wenn ich die ungesagten Worte depressiver Mitschüler hören konnte, diesen Personen irgendwie zu helfen. Aber es war wirklich nicht leicht. Wie sollte ich auch jemandem helfen, der mich gar nicht oder nur sehr wenig kannte? Natürlich konnten diese Personen mir nicht einfach vertrauen. Das würde ich an ihrer Stelle auch nicht tun. Schon allein deshalb, weil ich bereits als Kind auch viele schlimme, ungesagte Wörter gehört hatte.
Mit das Schlimmste war, dass die ungesagten Worte von jemandem zu hören, diesem Jemand alle Magie nahm. Nachdem ich Jemandes ungesagte Worte kannte, wenn auch nur für einen Tag, zerstörte das jedes Mal meine Vorstellung von dieser Person. Ich lernte sie dadurch unfreiwillig kennen und zwar auch das, was sie anderen vorenthielten, gerade das.
Das war wohl mit einer der Gründe, warum ich nicht viele Freunde hatte. Ich wollte ihre ungesagten Worte nicht kennen. Nicht solange sie sie mir nicht verraten wollten und sie somit keine ungesagten Worte mehr wären.
Es war ein Fluch. Ich würde es eindeutig als Fluch bezeichnen.
Bis zu dem Tag, an dem ich seinen ersten Gedanken hörte. Er arbeitete in einem Café in der Nähe der Schule, auf die ich ging. Ich hatte ihn ein paar Mal gesehen, als ich mir im Café etwas gekauft hatte und er gerade Schicht hatte. Er war ganz niedlich, ziemlich mein Typ und er war nett und hilfsbereit. Ich war schon ein bisschen verknallt in ihn und würde ihn eigentlich ganz gerne näher kennenlernen.
Nur würde ich dann früher oder später für einen Tag seine Gedanken zu hören bekommen und darauf war ich nicht wirklich scharf.
Dieser Fluch, der auf mir lag, behinderte mich beim Aufbau einer jeden längeren Beziehung, ob es jetzt Freundschaft oder was in Richtung Liebe war. Es war schrecklich. Ich war froh, dass es bei meinen Eltern halbwegs okay war. Sie waren tolle Menschen, hatten zwar ihre Geheimnisse, aber die waren erträglich. Wobei ich mich natürlich auch da vor dem Tag fürchtete, an dem sich das änderte. Denn es kam auch vor, dass ich die Gedanken einer Person, die ich schon einmal einen Tag lang gehört hatte, an einem anderen Tag wieder zu hören bekam.
Oftmals waren es aber Personen, mit denen ich absolut nicht rechnete, obwohl ich ja wusste, dass es Jeden treffen konnte. Dass ich viele der Personen gar nicht wirklich kannte oder einfach noch nie richtig bemerkt hatte, war klar. Trotzdem war ich manchmal sehr überrascht, wen es trag. Nicht zuletzt aus dem Grund, dass ich mich sehr oft fragte, warum ich diese Fähigkeit oder wie immer man es nennen mochte, besaß.
Viel überraschender als die Person selbst, waren aber oftmals die Gedanken an sich. Viele verbargen so vieles von sich hinter einer Maske oder zeigten es schlichtweg nicht nach außen.
Doch was mich bei ihm, dem Jungen aus dem Café, so überraschte, war, dass sein erster Gedanke an dem Tag war: „Ich weiß, dass du mich hören kannst.

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