Viel Spaß beim Lesen. :)
Wort: Fenster
Wörter: 576
Möglichkeitenmeer
Wenn ich nachts wachliege und aus dem Fenster schaue, stelle ich mir
manchmal vor, dass ich in eine andere Welt gelangen würde, wenn ich
das Fenster öffne und hindurch steige. Ich würde nicht fallen oder
nicht mehr drinnen, sondern draußen sein. Nein, ich würde in einer
Parallelwelt landen.
Diese andere Welt würde sich gar nicht so sehr von der, die wir
kennen, unterscheiden. Sie wäre ihr vielleicht sogar sehr ähnlich.
Auf den ersten Blick würde man vielleicht sogar gar keinen
Unterschied erkennen.
Als ich jetzt aufstehe und ans Fenster trete, lege ich eine Hand auf
die Fensterscheibe und schaue hoch in die Sterne. Dort draußen gibt
es so vieles. Warum sollte es nicht auch noch andere Welten geben? Es
fällt mir schwer, daran zu glauben, dass es nur diese eine Welt
geben soll. Woher sollen wir das auch überhaupt wissen? So vieles
ist noch unerforscht und unentdeckt. Alles ist möglich.
Ich lächele. Das ist es, was mir so sehr gefällt. Alles ist
möglich. In der Theorie ist alles möglich. Es könnte andere Welten
geben. Ich mag den Gedanken.
Wer weiß, vielleicht würde ich tatsächlich in einer Parallelwelt
landen, wenn ich jetzt das Fenster öffne und nach draußen in die
Nacht steige. Vielleicht würde ich auch einfach fallen.
Allein die Möglichkeit, dass dort draußen mehr sein könnte, als
man mit dem bloßen Auge sieht, lässt meine Hand, die auf der
Scheibe liegt, kribbeln.
Denn tatsächlich ist dort draußen auch sehr viel mehr, als das, was
ich gerade sehe. Natürlich ist da mehr. Denn alles, was ich gerade
sehe, ist Dunkelheit, Häuserfassaden, Straßenlaternen und leere
Geh- und Fahrtwege. Aber dort hinter den dunklen Fenstern liegen
Menschen und schlafen oder vielleicht liegen sie wach und starren an
ihre Zimmerdecke oder schauen noch fern oder lesen. Die Möglichkeiten
sind endlos.
Irgendwo auf der Welt ist jetzt auch Tag. Irgendwo klingelt ein
Wecker und jemand wacht auf und geht zur Schule oder fährt zur
Arbeit. Irgendwo lacht gerade jemand mit seinen Freunden. Und
irgendwo küssen sich gerade zwei Verliebte. Es passieren gerade so
viele Dinge gleichzeitig, das passt gar nicht in meinen Kopf hinein.
Jetzt kribbelt mein ganzer Körper, denn ich denke an all die
Möglichkeiten, die ich selbst habe. Jeder hat sie, diese unheimlich
vielen Möglichkeiten. Es ist beängstigend, aber auch gleichzeitig
ermutigend.
Ich könnte mich jetzt anziehen, ein paar Sachen packen, rausgehen
und in den nächsten Bus steigen und einfach fahren, irgendwohin,
egal. Ich könnte auch ein ungelesenes Buch nehmen und die ganze
Nacht lesen oder auch ein Buch, das ich schon einmal gelesen habe,
neu entdecken. Oder ich könnte den Laptop anmachen und die ganze
Nacht schreiben oder irgendetwas schauen. Ich könnte mich auch
wieder ins Bett legen und morgen früh aufwachen und jemand ganz
anderes sein, als ich es gestern war und damit meine Zukunft komplett
umschreiben. Ich könnte mir neue Träume suchen und neue Ziele
setzen und am nächsten Tag könnte ich sie wieder ändern oder
nächste Woche oder in einem Jahr.
Es ist alles möglich. Man muss es nur tun. Man muss sich nur trauen.
Also ja, dort draußen hinter der Fensterscheibe befindet sich
tatsächlich eine Parallelwelt, nicht nur eine, unendlich viele.
Alles, was möglich ist und auch das, was es vielleicht auf den
ersten Blick nicht zu sein scheint, ist dort draußen.
Eine ganze Weile kann ich meine Hand nicht von der Scheibe und meinen
Blick nicht vom Sternenhimmel lösen, denn es ist, als würde die
Welt dort draußen, nach mir rufen: Komm, lebe.
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