Mittwoch, 22. April 2015

52/52 Challenge: Der letzte Kuss

Ich schaff's endlich mal wieder einen Challenge-Text hochzuladen. ;D Am Ende scheitere ich noch daran, nicht rechtzeitig alle hochgeladen zu haben. o.o

Wort: Verlust
Wörter: 1150


Der letzte Kuss

Ich rannte. Ich rannte, so schnell ich konnte. Ich hatte Angst, über meine eigenen Füße zu stolpern und mir schmerzten die Brust und die Beine. Aber ich rannte weiter, ich blieb nicht stehen. Ich dachte nicht einmal daran, stehen zu bleiben.
Ein Schuss ertönte und mein Herzschlag setzte aus. Jetzt wäre ich doch fast stehen geblieben. Stattdessen tat ich es meinem Herzen gleich und raste nun noch schneller. Ich bog um die nächste Ecke, die letzte Ecke und da sah ich sie.
Sie lag auf dem Boden. Ich konnte nur ihren Rücken sehen. Sie rührte sich nicht. Sie lag bloß da und rührte sich nicht.
Nein. Nein! Ich war zu spät! Ich war zu spät! Sie rührte sich nicht. Ich war zu spät.
Tränen traten mir in die Augen. Doch ich war so schnell bei ihr, dass sie erst über meine Wangen liefen, als ich vor ihr auf die Knie fiel. Ich ignorierte den Schmerz beim Aufprall auf den harten Untergrund. Ich spürte ihn kaum, den Schmerz. Was ich, was mein Körper im Augenblick fühlte, war unwichtig und ich fühlte es auch kaum. Alles, was ich fühlte, alles, was ich sah, war sie, vor mir, auf dem Boden.
Ihr Körper war zusammengekrümmt, die Hände auf ihre Brust gedrückt. Nein. Ich schluchzte auf und atmete zitternd aus. Dann fasste ich sie an den Schultern und zog ihren Kopf auf meinen Schoß. Noch atmete sie. Noch... Ich hielt mir eine Hand vor den Mund, während meine Tränen auf ihr Haar tropften.
Sie schlug die Augen auf und blickte in die meinen. Der Anflug eines Lächelns huschte über ihre Lippen. Dieses Lächeln, das, seit unserer ersten Begegnung, jedes Mal, wenn unsere Blicke sich trafen, in ihrem Gesicht erschien. Das wunderschönste Lächeln, dass ich je gesehen hatte.
„Hey“, brachte ich erstickt hervor.
„Hey“, antwortete sie mit schwacher Stimme und ich versuchte verzweifelt gegen die Tränen anzublinzeln, um nicht eine einzige Millisekunde zu verpassen.
„Du bist... spät dran“, sagte sie und ihr Lächeln wurde noch ein klein wenig breiter.
Ich presste die Lippen aufeinander und schüttelte heftig mit dem Kopf. „Es tut mir so leid“, brach es schließlich aus mir heraus. „Es tut mir so leid, Maddie.“ Sie verschwamm vor meinen Augen, sodass ich ihr Gesicht kaum noch erkennen konnte. Ich legte eine Hand auf ihre Wange und spürte kurz darauf ihre Hand auf meiner.
„Küss mich“, flüsterte sie. Was? Diese Forderung kam mir so absurd vor, dass ich für einen Moment dachte, ich hätte mich verhört. Ich schaffte es, die Tränen halbwegs wegzublinzeln und konnte sie wieder richtig ansehen. Sie wiederholte ihre Bitte: „Küss mich.“ Verzweiflung sprach aus ihren Augen, Verzweiflung und Angst. Gleichzeitig war da aber auch eine gewisse... Ruhe. Ich atmete zittrig ein und beugte mich vor.
Ihre Hand berührte meine Wange. Wie viel Anstrengung und Energie diese simple Geste sie kosten musste, ich wollte es mir gar nicht vorstellen. Aber ich musste es mir vorstellen. Den Schmerz, den sie spürte, all den Schmerz, den sie je gespürt hatte, ich musste ihn mir vorstellen. Denn es war auch mein Schmerz. Ihr Schmerz war mein Schmerz und mein Schmerz war ihr Schmerz.
Als meine Lippen die ihren fanden, fühlten sie sich an, wie all die anderen Male auch. Jeder Kuss war anders gewesen, hatte nach anderen Gefühlen geschmeckt, aber ihre Lippen, ihr Mund war immer gleich gewesen. Es waren auch jetzt ihre Lippen, ihr Mund. Noch. Noch hatten diese Lippen und dieser Mund jemanden, dem sie gehörten.
Noch.
„Es tut mir so leid“, schluchzte ich in den Kuss hinein. Auch ihre andere Hand legte sich an meine Wange. „Es ist nicht deine Schuld“, sagte sie mit fester, sicherer Stimme. Ich hatte sie selten unsicher erlebt, aber ich wusste auch ganz genau, wann sie von etwas zu 100% überzeugt war. Jetzt war sie es. Sie war sich ganz sicher.
Aber sie lag falsch. Sie lag ganz falsch. Es war meine Schuld, allein meine Schuld.
„Küss mich“, bat sie wieder und ich erfüllte ihr den Wunsch, weil das alles war, was ich tun konnte. Ich konnte bloß ihren schwachen Körper halten, sie an mich drücken und küssen. Ich zog sie auf meinen Schoß, um sie näher bei mir zu haben, um ihren schwachen Herzschlag an meiner Brust zu fühlen. Das war das Schönste und Intimste an Nähe – den Herzschlag des anderen zu hören und zu fühlen. Es war auch das Beruhigendste.
Tatsächlich beruhigte es mich auch jetzt. Es lullte mich ein. Sie lullte mich ein, der Geschmack ihrer Lippen, die sanfte Art, mit der sie mich küsste und wie ihre Finger weich auf meiner Haut lagen.
„Es ist nicht deine Schuld“, sagte sie ständig und bevor ich erneut ''Es tut mir so leid'' sagen konnte, lagen unsere Lippen schon wieder aufeinander. Ich fragte mich später, woher sie die Kraft fürs Küssen genommen hatte, aber es war mir wohl weitaus länger erschienen, als es tatsächlich gewesen war und sowieso hatte sie schon immer das Unmögliche möglich gemacht, während ich beinahe an den kleinsten Dingen zerbrochen wäre.
Doch auch Maddies Möglichkeiten und Fähigkeiten waren begrenzt, so schwer es für uns beide auch war, das zu akzeptieren. Sie hatte genauso ihre Grenzen, wie jeder andere Mensch. Eine Kugel in die Brust, die ihrem Herzen irreparablen Schaden zugefügt hatte, würde sie genauso umbringen, wie jeden anderen Menschen.
Ihre Arme wurden schlapp und ihre Hände rutschten kraftlos von seinen Wangen. „Nathan“, flüsterte sie mit dünner Stimme. Ich fasste eine ihrer Hände und drückte sie ganz fest. Die Augenlider drohten ihr zuzufallen. Ich streichelte mit der anderen Hand ihre Wange. Meine Tränen tropften auf ihre Arme.
„Es ist nicht deine Schuld, hörst du?“, kam es erneut über ihre Lippen. Wie oft hatte sie es jetzt schon gesagt? „Nathan?“
„Ja“, erwiderte ich schnell. „Ja, ich höre, was du sagst.“
„Es ist nicht deine Schuld. Nicht deine... Schuld.“
„Scht. Du musst nichts mehr sagen. Ich bin hier, Maddie. Ich bin hier bei dir.“ Ich drückte ganz fest ihre Hand. Doch sie war wohl schon zu schwach, um den Druck zu erwidern. Ein schwaches Lächeln bekam sie noch gerade so hin.
„Küss mich. Ein... letztes... Mal.“
Ich neigte mich wieder zu ihr hinunter und bedeckte ihre Lippen mit meinen. Sie konnte den Kuss nicht mehr erwidern, aber ich spürte ihren Atem. Sie atmete sehr langsam und unregelmäßig und dann... dann atmete sie gar nicht mehr.
Ich hob den Kopf und legte ihn in den Nacken, während die Tränen unaufhaltsam über meine Wangen flossen. Ich wollte schreien, aber kein Laut kam über meine Lippen. Stattdessen wimmerte ich bloß. Ich konnte nicht einmal schluchzen, derartig zugeschnürt war meine Kehle.
Meine Hände verkrampften sich um ihre leblosen Arme und ich schaute sie an und jetzt schluchzte ich doch und schrie, bis ich mein Gesicht an ihrem Hals vergrub und bloß noch zitterte.
Es war vorbei. Es war jetzt vorbei. Wir hatten verloren. Es war vorbei.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen