Wort: Verlust
Wörter: 1150
Der letzte Kuss
Ich rannte. Ich rannte, so schnell ich konnte. Ich hatte Angst, über
meine eigenen Füße zu stolpern und mir schmerzten die Brust und die
Beine. Aber ich rannte weiter, ich blieb nicht stehen. Ich dachte
nicht einmal daran, stehen zu bleiben.
Ein Schuss ertönte und mein Herzschlag setzte aus. Jetzt wäre ich
doch fast stehen geblieben. Stattdessen tat ich es meinem Herzen
gleich und raste nun noch schneller. Ich bog um die nächste Ecke,
die letzte Ecke und da sah ich sie.
Sie lag auf dem Boden. Ich konnte nur ihren Rücken sehen. Sie rührte
sich nicht. Sie lag bloß da und rührte sich nicht.
Nein. Nein! Ich war zu spät! Ich war zu spät! Sie rührte sich
nicht. Ich war zu spät.
Tränen traten mir in die Augen. Doch ich war so schnell bei ihr,
dass sie erst über meine Wangen liefen, als ich vor ihr auf die Knie
fiel. Ich ignorierte den Schmerz beim Aufprall auf den harten
Untergrund. Ich spürte ihn kaum, den Schmerz. Was ich, was mein
Körper im Augenblick fühlte, war unwichtig und ich fühlte es auch
kaum. Alles, was ich fühlte, alles, was ich sah, war sie, vor mir,
auf dem Boden.
Ihr Körper war zusammengekrümmt, die Hände auf ihre Brust
gedrückt. Nein. Ich schluchzte auf und atmete zitternd aus. Dann
fasste ich sie an den Schultern und zog ihren Kopf auf meinen Schoß.
Noch atmete sie. Noch... Ich hielt mir eine Hand vor den Mund,
während meine Tränen auf ihr Haar tropften.
Sie schlug die Augen auf und blickte in die meinen. Der Anflug eines
Lächelns huschte über ihre Lippen. Dieses Lächeln, das, seit
unserer ersten Begegnung, jedes Mal, wenn unsere Blicke sich trafen,
in ihrem Gesicht erschien. Das wunderschönste Lächeln, dass ich je
gesehen hatte.
„Hey“, brachte ich erstickt hervor.
„Hey“, antwortete sie mit schwacher Stimme und ich versuchte
verzweifelt gegen die Tränen anzublinzeln, um nicht eine einzige
Millisekunde zu verpassen.
„Du bist... spät dran“, sagte sie und ihr Lächeln wurde noch
ein klein wenig breiter.
Ich presste die Lippen aufeinander und schüttelte heftig mit dem
Kopf. „Es tut mir so leid“, brach es schließlich aus mir heraus.
„Es tut mir so leid, Maddie.“ Sie verschwamm vor meinen Augen,
sodass ich ihr Gesicht kaum noch erkennen konnte. Ich legte eine Hand
auf ihre Wange und spürte kurz darauf ihre Hand auf meiner.
„Küss mich“, flüsterte sie. Was? Diese Forderung kam mir so
absurd vor, dass ich für einen Moment dachte, ich hätte mich
verhört. Ich schaffte es, die Tränen halbwegs wegzublinzeln und
konnte sie wieder richtig ansehen. Sie wiederholte ihre Bitte: „Küss
mich.“ Verzweiflung sprach aus ihren Augen, Verzweiflung und Angst.
Gleichzeitig war da aber auch eine gewisse... Ruhe. Ich atmete
zittrig ein und beugte mich vor.
Ihre Hand berührte meine Wange. Wie viel Anstrengung und Energie
diese simple Geste sie kosten musste, ich wollte es mir gar nicht
vorstellen. Aber ich musste es mir vorstellen. Den Schmerz, den sie
spürte, all den Schmerz, den sie je gespürt hatte, ich musste ihn
mir vorstellen. Denn es war auch mein Schmerz. Ihr Schmerz war mein
Schmerz und mein Schmerz war ihr Schmerz.
Als meine Lippen die ihren fanden, fühlten sie sich an, wie all die
anderen Male auch. Jeder Kuss war anders gewesen, hatte nach anderen
Gefühlen geschmeckt, aber ihre Lippen, ihr Mund war immer gleich
gewesen. Es waren auch jetzt ihre Lippen, ihr Mund. Noch. Noch hatten
diese Lippen und dieser Mund jemanden, dem sie gehörten.
Noch.
„Es tut mir so leid“, schluchzte ich in den Kuss hinein. Auch
ihre andere Hand legte sich an meine Wange. „Es ist nicht deine
Schuld“, sagte sie mit fester, sicherer Stimme. Ich hatte sie
selten unsicher erlebt, aber ich wusste auch ganz genau, wann sie von
etwas zu 100% überzeugt war. Jetzt war sie es. Sie war sich ganz
sicher.
Aber sie lag falsch. Sie lag ganz falsch. Es war meine Schuld, allein
meine Schuld.
„Küss mich“, bat sie wieder und ich erfüllte ihr den Wunsch,
weil das alles war, was ich tun konnte. Ich konnte bloß ihren
schwachen Körper halten, sie an mich drücken und küssen. Ich zog
sie auf meinen Schoß, um sie näher bei mir zu haben, um ihren
schwachen Herzschlag an meiner Brust zu fühlen. Das war das Schönste
und Intimste an Nähe – den Herzschlag des anderen zu hören und zu
fühlen. Es war auch das Beruhigendste.
Tatsächlich beruhigte es mich auch jetzt. Es lullte mich ein. Sie
lullte mich ein, der Geschmack ihrer Lippen, die sanfte Art, mit der
sie mich küsste und wie ihre Finger weich auf meiner Haut lagen.
„Es ist nicht deine Schuld“, sagte sie ständig und bevor ich
erneut ''Es tut mir so leid'' sagen konnte, lagen unsere Lippen schon
wieder aufeinander. Ich fragte mich später, woher sie die Kraft fürs
Küssen genommen hatte, aber es war mir wohl weitaus länger
erschienen, als es tatsächlich gewesen war und sowieso hatte sie
schon immer das Unmögliche möglich gemacht, während ich beinahe an
den kleinsten Dingen zerbrochen wäre.
Doch auch Maddies Möglichkeiten und Fähigkeiten waren begrenzt, so
schwer es für uns beide auch war, das zu akzeptieren. Sie hatte
genauso ihre Grenzen, wie jeder andere Mensch. Eine Kugel in die
Brust, die ihrem Herzen irreparablen Schaden zugefügt hatte, würde
sie genauso umbringen, wie jeden anderen Menschen.
Ihre Arme wurden schlapp und ihre Hände rutschten kraftlos von
seinen Wangen. „Nathan“, flüsterte sie mit dünner Stimme. Ich
fasste eine ihrer Hände und drückte sie ganz fest. Die Augenlider
drohten ihr zuzufallen. Ich streichelte mit der anderen Hand ihre
Wange. Meine Tränen tropften auf ihre Arme.
„Es ist nicht deine Schuld, hörst du?“, kam es erneut über ihre
Lippen. Wie oft hatte sie es jetzt schon gesagt? „Nathan?“
„Ja“, erwiderte ich schnell. „Ja, ich höre, was du sagst.“
„Es ist nicht deine Schuld. Nicht deine... Schuld.“
„Scht. Du musst nichts mehr sagen. Ich bin hier, Maddie. Ich bin
hier bei dir.“ Ich drückte ganz fest ihre Hand. Doch sie war wohl
schon zu schwach, um den Druck zu erwidern. Ein schwaches Lächeln
bekam sie noch gerade so hin.
„Küss mich. Ein... letztes... Mal.“
Ich neigte mich wieder zu ihr hinunter und bedeckte ihre Lippen mit
meinen. Sie konnte den Kuss nicht mehr erwidern, aber ich spürte
ihren Atem. Sie atmete sehr langsam und unregelmäßig und dann...
dann atmete sie gar nicht mehr.
Ich hob den Kopf und legte ihn in den Nacken, während die Tränen
unaufhaltsam über meine Wangen flossen. Ich wollte schreien, aber
kein Laut kam über meine Lippen. Stattdessen wimmerte ich bloß. Ich
konnte nicht einmal schluchzen, derartig zugeschnürt war meine Kehle.
Meine Hände verkrampften sich um ihre leblosen Arme und ich schaute
sie an und jetzt schluchzte ich doch und schrie, bis ich mein Gesicht
an ihrem Hals vergrub und bloß noch zitterte.
Es war vorbei. Es war jetzt vorbei. Wir hatten verloren. Es war
vorbei.
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