Viel Spaß beim Lesen.
Wort: Luxus
Wörter: 1305
Glücksillusion
Ihr Blick veränderte sich nicht, als sie durch die große
Wohnungstür in den großen Eingangsbereich der Wohnung trat. Die
Wohnung war offen gestaltet, sie konnte bis in die Küche und das
Wohnzimmer sehen. Einzig Bad und Schlafzimmer schienen separat zu
sein. Überall sah sie Goldverzierungen und alles schien teuer und
wertvoll, die Möbel zu kostbar, um sie zu nutzen. Es wirkte, als
wäre alles bloß Dekoration.
Selbst der Mantel, der sicherlich aus reinster Wolle war, wurde zu
Dekoration, als ihr Vater, dem diese riesige Wohnung mit samt ihrer
prunkvollen Einrichtung gehörte, ihn an den Harken der Gaderobe
hängte. Sogar ihr Vater selber schien bloß Dekoration zu sein, als
er vor sie trat. Einzig sein fragender und leicht unsicherer Blick
ließ ihn menschlich und echt aussehen.
Er konnte ihr noch solange ins Gesicht sehen, er würde nichts
finden. Sie war nicht beeindruckt von diesem ganzen Protz und sie
würde ganz sicher nicht sagen, dass er schön lebte. Es war nicht
schön, es war künstlich.
Sie zog die Schultern an. Hier würde sie sich nicht wohlfühlen,
niemals. Aber sie hatte selber Schuld, dass sie ihre Sachen aus den
Augen verloren und dadurch komplett verloren hatte.
„Willst du einen Tee oder einen Kaffee?“, fragte ihr Vater. Sie
schüttelte mit dem Kopf. „Etwas anderes?“
„Ich will gar nichts. Ich will hier nur schlafen. Auf der Couch“,
sagte sie direkt.
„Du brauchst nicht auf der Couch zu schlafen. Ich stelle dir gerne
mein Bett zur Verfügung. Nach allem, was du eben erzählt hast...“,
widersprach er hastig.
Sie verdrehte die Augen. „Das ist nicht nötig.“ Langsam begann
sie sich durch die Wohnung zu bewegen. Sie schaute sich alles an, als
würde sie es sich einprägen wollen. Ihr Vater konnte nur hilflos
dastehen und zu schauen, denn er kannte dieses Mädchen nicht. Er
hatte sie eben erst getroffen, hatte eben erst erfahren, dass er ihr
Vater war.
Bei der großen Couch im offenen Wohnbereich blieb sie schließlich
stehen und drehte sich zu ihm um. „Willst du mich gar nichts
fragen?“ Die Andeutung eines Lächelns lag auf ihren Lippen. Er war
überrascht und sprachlos, natürlich war er das. Es gefiel ihr,
einen Mann wie ihn überfordert und machtlos zu wissen. Vielleicht
hätte sie nach ihm suchen sollen. Stattdessen hatte sie sich selbst
vorgemacht, dass sie nur zufällig in der Stadt als Obdachlose leben
wollte, in der ihr leiblicher Vater lebte. Letztendlich ging es bei
allem wohl nur um ihn. Dabei ging es eigentlich um so viel mehr, um
so viel grundlegendere Dinge. Nicht grundlegender, tiefergehender.
Gesellschaftliche Dinge.
„Ich will dich ganz viel fragen, Maddison“, sagte ihr Vater und
ließ sich seufzend auf der Couch nieder. Er fuhr sich durch die
Haare und schien geradezu verzweifelt. Sie stand bloß daneben und
blickte auf ihn hinab, noch immer leicht lächelnd.
Sie war nicht schadenfroh. Sie war selbst mit der Situation
überfordert. Das hatte nicht passieren sollen, nicht heute, niemals.
Aber genau das war es, was sie in dem Leben auf der Straße gesucht
hatte – die Freiheit für Spontanität und Spontanität bedeutete
nunmal sich Hals über Kopf in unvorhersehbare Situationen zu
stürzen. Früher hätte sie das nie gemacht, in ihrem alten Leben,
bevor sie entschieden hatte, auf der Straße zu leben. Doch jetzt war
es ihr schon in Fleisch und Blut übergegangen, was sie vorher gar
nicht gemerkt hatte. Als sie in ihren Vater hineingelaufen war und
ihn mit Schrecken erkannt hatte, war sie einfach in Tränen
ausgebrochen und hatte ihm alles erzählt. Ihr altes Ich wäre
davongelaufen.
Spontanität zu leben, bedeutete aber nicht gleich, mit den Folgen
dessen auch umgehen zu können. Auf ihn mochte es wirken, als wäre
sie gelassen, ja sogar gefühlskalt. Doch in ihr herrschte ebenfalls
Chaos, auch wenn sie es hinter eine Tür gesperrt hatte. Es war schon
lange hinter dieser Tür, das ganze Chaos ihren leiblichen Vater
betreffend. Es war dabei hervorzubrechen. Das war es wohl schon die
ganze Zeit. Warum sonst hätte sie in diese Stadt kommen sollen? Es
war wegen ihrem leiblichen Vater, das musste sie sich jetzt endlich
eingestehen.
„Bevor du mir deine Fragen stellst, darf ich dich was fragen?“
Sie sagte das vor allem, um das drückende Schweigen zu durchbrechen.
„Natürlich. Frag nur“, erwiderte er und klang erleichtert. Ihm
hatte das Schweigen wohl auch zu schaffen gemacht. „Komm, setz dich
doch zu mir.“
Sie ignorierte seine Aufforderung und wandte sich stattdessen von ihm
ab und setzte sich auf den Fußboden, den Blick auf den großen
Flachbildfernseher gerichtet. Er stand auf einer Anrichte, in der
sich die neusten Konsolen befanden. Rechts und links neben dem
Fernseher waren zwei Regale gefüllt mit DVDs und Spielen für die
Konsolen.
„Wofür ist das alles?“, fragte sie. Bevor er antworten konnte,
sprach sie schon weiter: „Wofür brauchst du das alles? Bei dem
Job, den du hast, um diese Wohnung und alles, was dazugehört, nicht
zu vergessen deinen Lifestyle zu finanzieren, wirst du kaum Zeit
haben, um all diese Filme zu schauen und all diese Spiele zu
spielen.“
Stille antwortete auf ihre Worte. Was sollte man darauf auch sagen?
Also sprach sie weiter: „Du hast sie bloß, um sie zu haben. Alles
in dieser Wohnung hast du nur, um es zu haben. Okay, mal abgesehen
von Lebensmitteln und Verbrauchssachen wie Klopapier. Aber alles
andere hast du bloß von deinem fetten Einkommen gekauft, weil du es
kannst. Und dabei bist du nicht einmal glücklich mit deinem Job und
überhaupt mit deinem Leben.“
Wieder Stille. Doch dann: „Woher willst du das wissen? Du kennst
mich nicht, Maddison.“
Sie lächelte leicht und drehte sich zu ihm um. „Ich muss dich
nicht kennen, um das zu wissen. Die meisten Menschen denken so.
Unsere Gesellschaft denkt so“, erklärte sie. „Es ist traurig,
nicht? Wir könnten so viel tun, so viel gutes, so viel schönes, so
viel aufregendes und stattdessen lernen wir, um dann einen Job zu
machen, der uns viel Geld bringt, von dem wir uns viel unnützen Kram
kaufen.“ Sie gab einen freudlosen Laut von sich und schaute auf
ihre Hände.
„Und du denkst, das Leben auf der Straße ist besser?“, wollte
ihr Vater wissen.
„Ja. Ja, in gewisser Weise ist es besser. Es ist nicht perfekt und
schon gar nicht die perfekte Lösung, ganz bestimmt nicht. Aber es
ist freier. Ich bin nur mir selbst verpflichtet und muss für alles
selbst sorgen. Ich kann tun, was ich will, weil ich nur mir selbst
Rechenschaft schuldig bin. Für mich spielt es keine Rolle, was die
Gesellschaft denkt und will“, meinte sie und Enthusiasmus,
Lebensfreude schwang in ihrer Stimme mit und war auch an dem Leuchten
in ihrem Gesicht zu sehen. Doch sobald sie zu Ende gesprochen hatte,
verblasste beides.
„Du, alle anderen, ihr lebt eine Lüge. Ihr erschafft euch diese
Illusionen von Glück, die nur ein billiger Abklatsch von echtem
Glück sind. Und ihr wisst das sogar! Ihr wisst es und lasst euch
trotzdem davon einlullen.“ Wut und Traurigkeit ließen sie den
Blick erneut auf ihre Hände senken.
„Aber du bist auch nicht glücklich“, stellte er fest.
„Nein, natürlich nicht!“, stieß sie hervor und jetzt war sie
wirklich wütend, zornig. „Wie könnte ich? Wie könnte ich
glücklich sein, als jemand, der versucht ohne Luxus zu leben, wenn
ich dabei ständig von Luxus umgeben bin? Ich versuche dagegen
anzukämpfen. Ich versuche mein Bestes und doch ist es nicht genug.
Es ist nicht genug. Es wird niemals genug sein.“ Sie schluchzte
fast und presste sich eine Hand auf den Mund, aber es war schon zu
spät. Wieder rannen ihr Tränen, die sie nicht aufhalten konnte,
über die Wangen.
Starr saß sie da, bis sie in ihrem Rücken Bewegung vernahm. Aus dem
Augenwinkel sah sie, dass ihr Vater sich zu ihr setzte. Sie saßen
einfach nur da und schauten auf den ausgeschalteten
Flachbildfernseher.
„Vielleicht kann man in dieser Gesellschaft nie wahrhaftig und
vollkommen glücklich sein.“
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