So viel dazu. Ich wollte eigentlich schon etwas früher anfangen, aber irgendwie wollte es einfach nicht klappen. Langsam sammeln sich die Ideen aber zum Glück an. Wird trotzdem keine allzu leichte Aufgabe werden.
Fangen, Festhalten, Loslassen
Lachend rannten die Kinder
durcheinander – eines nach rechts, eines nach links, eines
versteckte sich hinter dem Stamm eines dicken Baumes, während die
restlichen den Hügel hinunter liefen in Richtung des großen Sees,
dessen unbewegte Oberfläche den strahlend blauen Himmel
widerspiegelte. Selbst aus der Entfernung konnte das Mädchen, das
hinter dem Baum hervor lugte, sehen wie das Wasser durch die Sonne
schimmerte.
Vögel stimmten über ihr in den Ästen
ein fröhliches Lied an, als sie kicherte. Ein Junge hatte sich nicht
von der Stelle gerührt. Da alle anderen davongelaufen waren, stand
er jetzt ganz allein vor dem Baum.
Sie hielt sich die kleine Hand vor den
Mund, damit er sie nicht hörte. Eine Brise wehte ihr das blonde Haar
ins Gesicht und sie blinzelte, ärgerte sich darüber, dass sie nicht
gewollt hatte, dass ihre Mutter ihr zwei Zöpfe machte.
Der Junge bewegte sich endlich. Seine
Schultern sanken herab und er tat mehrere Schritte Richtung See,
blieb aber wieder stehen. Sie musste schon wieder kichern. Dieses Mal
hörte er es und drehte sich zu ihr um. Erschrocken presste sie sich
die Hand fester auf den Mund, was jetzt aber auch nicht mehr half.
Allerdings machte er keine Anstalten zu ihr zu laufen, um sie zu
ticken.
Er sah sie bloß an, aus grünen Augen.
Sein Haar war braun und kräuselte sich leicht.
Sie kicherte wieder und ließ die Hand
sinken. „Du musst mich fangen“, erklärte sie. Er hatte das Spiel
offensichtlich nicht verstanden.
„Warum?“, wollte er wissen und ging
zwei Schritte in ihre Richtung, wo er erneut stehen blieb.
„Damit du mich ticken kannst. Dann
bin ich dran und muss jemand anderen ticken“, erklärte sie weiter
und lächelte.
„Dann müsste ich vor dir weglaufen,
oder?“ Sie nickte und er kam auf sie zu. Er rannte nicht. Er ging
in einem ganz normalem Tempo. Sie hätte wegrennen müssen, doch
stattdessen starrte sie ihn mit leicht geöffnetem Mund an und
dachte, dass dieser Junge wirklich komisch war.
Und dann dachte sie, dass er wirklich
wirklich komisch war, als er, kurz bevor er sie erreicht hatte, seine
Richtung leicht änderte und sich in den Rasen setzte, sich mit dem
Rücken gegen den Stamm des Baumes lehnend.
„Ich will nicht laufen“, sagte er.
„Du auch nicht, oder?“ Jetzt war er es, der lächelte. Nachdem
ihre Verwirrung etwas nachgelassen hatte, lächelte sie zurück und
legte sich nach kurzem Zögern ins Gras, den blauen Himmel über
sich, das Rauschen der Blätter in den Ohren und die lauten Stimmen
der anderen Kinder weit weg.
Hand in Hand stiegen sie den Hügel
hinauf, der unweit vom See entfernt lag. Ein Baum mit braunem, dickem
Stamm und hoch in den Himmel ragenden Ästen stand auf diesem Hügel.
Von weitem hatte er einsam gewirkt, fast trostlos, wie er dort ganz
allein auf der Anhöhe stand und auf den See hinabblickte. Dass seine
Äste nur noch an wenigen Stellen mit dunklen Blättern behangen
waren, verstärkte diesen Eindruck noch.
Allerdings wirkte er auf die 16-jährige
von Nahem, wo sie erkannte, wie groß er war und wie alt er aufgrund
des dicken Stammes bereits sein musste, in erster Linie majestätisch
und würdevoll. Es war ein wunderschöner, mächtiger Baum, selbst wo
er jetzt im Herbst sein grünes Gewand verloren hatte.
Auch dem Jungen, dessen Hand sie in
ihrer hielt, kam der Baum riesig vor und auch ein wenig bedrohlich,
wie er seine fast vollkommen nackten Arme in die Luft streckte.
„Es ist wunderschön hier“, sagte
sie, während sie an dem Baum hinaufblickte und einzuschätzen
versuchte, wie groß er in etwa war, bis sie zu der Erkenntnis kam,
dass die tatsächliche Größe keine Rolle spielte. Es genügte, wie
er auf sie wirkte.
„Erinnerst du dich, wie wir als
Kinder immer hier gespielt haben?“, fragte er und blickte lächelnd
zu ihr hinüber. Seine grünen Augen schauten direkt in ihre, was sie
leicht verlegen den Blick senken ließ. „Haben wir das?“, kam es
ihr leise über die Lippen. „Kennen wir uns schon so lange?“ Sie
schaute wieder hoch in die Baumkrone und glaubte sich, wo er es
erwähnt hatte, an den See zu erinnern. Ja, an dem See hatte sie als
Kind oft gespielt.
„Ich war damals neu in der Stadt“,
erzählte er. Sie nickte nur, völlig versunken in ihren Gedanken.
Deshalb schrak sie ein wenig zusammen,
als er seine Hand plötzlich aus ihrer löste. Sie wollte schon
fragen, was los war, da sah sie, wie er näher an den Stamm des
Baumes herantrat und etwas aus seiner Jackentasche zog. Das Laub
knisterte unter seinen Füßen und sie schloss den Mund, während sie
ihre Hände in die Taschen ihres grauen Mantels schob. Die goldenen
Strahlen der Herbstsonne waren wunderschön, aber sie vermochten kaum
noch zu wärmen.
„Komm her“, flüsterte er nach
einer Weile und mit bedachten Schritten trat sie neben ihn. Eine Hand
zog sie wieder aus ihrer Jackentasche und er ergriff sie sofort,
hielt sie warm in seiner. Sie atmete ruckartig ein, als sie sah, was
er gemacht hatte.
In die Rinde des Holzes hatte er, mit
dem Taschenmesser, das er nach wie vor in der Hand hielt, ein Herz
geritzt und in diesem Herz standen zwei Buchstaben – ein C und ein
D.
„Du bist unglaublich“, stieß sie
hervor und wandte ihm mit Tränen in den Augen das Gesicht zu. In der
nächsten Sekunde schlang sie die Arme um ihn und es war ihr egal,
dass es kitschig war und sie vielleicht übertrieben reagierte. Sie
war einfach gerührt von seiner Geste.
Währenddessen drückte er lächelnd
sein Gesicht in ihr Haar. „Ich habe es endlich geschafft, dich zu
fangen.“
Sich gegen den Stamm des Baumes lehnend
setzte sie sich auf das vom Morgentau noch leicht feuchte Gras. Nach
einem langen Blick auf den verlassen daliegenden See am Fuße des
Hügels und einem tiefen Seufzen schlug sie das Buch auf, das sie in
den Händen hielt.
Es war bereits hell, aber die Sonne war
noch nicht aufgegangen, als sie das erste Wort las. Es folgten viele,
viele weitere Worte und ihre Schultern entspannten sich ein wenig,
ihre Atmung wurde entspannter, ihre Gedanken klärten sich, selbst
ihr Herz schien sich ein kleines bisschen zu entkrampfen. Mit jedem
Satz durchströmte sie Erleichterung.
Doch irgendwann schloss sie das Buch
und strich sich eine Strähne ihres blonden Haares aus dem Gesicht.
Das widerspenstige Ding hatte sich aus ihrem lockeren Zopf gelöst.
Die Hände auf ihr Buch legend atmete sie ein und aus, betrachtete
den See und legte nach einer Weile den Kopf in den Nacken. Erste
Blättchen sprossen bereits an den Ästen und sie schloss die Augen.
Inzwischen war die Sonne aufgegangen
und die Vögel hatten längst ihre Lieder angestimmt. Der Geruch von
Frühling lag in der Luft. Aber sie schmeckte bloß die aufkommenden
Tränen, die gleich darauf über ihre Wangen liefen.
Mit einem Mal war ihr kalt, denn sie
trug bloß einen dünnen Pullover, Jeans und ein Paar Turnschuhe. Die
Arme um ihren Oberkörper schlingend versuchte sie, die Fassung zu
behalten.
Es hatte keinen Sinn,
zusammenzubrechen. Es hatte keinen Sinn, zu zerbrechen. Dadurch würde
es nicht besser werden. Als junges Mädchen mochte es einem so
vorkommen und da konnten Sprüche wie ''Manchmal muss etwas
zerbrechen, damit etwas neues und besseres daraus entstehen kann''
hilfreich und auch zutreffend sein. Aber sie war kein junges Mädchen
mehr und es würde nichts neues und besseres entstehen. Es würde
überhaupt nichts entstehen.
Ein Schluchzen unterdrückend schlang
sie die Arme noch fester um sich und ließ die Hände dann langsam
von ihren Armen hinabgleiten, bis sie nicht länger ihren Oberkörper
sondern nur noch ihren Bauch umarmte.
Ihr war bewusst, dass sie es
akzeptieren musste. Sie hatte gar keine andere Wahl. Es war wie mit
diesem Baum, der genau an dieser Stelle gewachsen war und nirgendwo
anders. Er konnte nicht woanders hingehen. Er konnte sich nicht von
hier wegbewegen und in ihrem Bauch würde sich niemals ein
heranwachsendes Leben bewegen.
Der Wind peitschte ihnen ins Gesicht,
sodass das kleine Mädchen die große Hand ihres Vaters noch fester
umfasste und nach ihrer pinken Mütze griff, damit sie ihr nicht vom
Kopf fiel. Ihr Fransenpony schaute unter der Mütze hervor. Der Wind
änderte plötzlich seine Richtung und ihre schwarzen Haare, die sie
offen trug und die lang und lockig waren, schlugen ihr plötzlich ins
Gesicht.
„Daddy“, jammerte sie und er blieb
stehen, kniete sich vor ihr hin. „Was ist denn, Kleine?“ Aus
vertrauten, grünen Augen blickte er sie liebevoll an und rückte ihr
die leicht schiefe Mütze zurecht. „Der Himmel ist so dunkel und
mir ist kalt.“
Sein Gesichtsausdruck veränderte sich.
Jetzt sah er traurig aus. „Es ist nicht mehr weit. Wir sind fast
da, nur noch ein paar Schritte“, versprach er und nahm das
herunterhänge Ende ihres bunt gemusterten Schals, um ihn ihr noch
einmal um den Hals zu wickeln. „Danach fahren wir nach Hause.“
Aus runden, braunen Augen blickte sie
ihn an. „Okay.“
Mit einem kleinen Lächeln, aber noch
immer einem traurigen Ausdruck in den Augen stieg er gemeinsam mit
seiner Tochter das letzte Stück des Hügels hinauf, wo nackt und in
dem stürmischen Wind knarrend der Baum stand. Ehrfürchtig hielt er
einen Moment inne. Das kleine Mädchen schaute zu ihm hoch und sah
anschließend den Baum an. Es war ein dicker Baum, der ohne seine
Blätter hässlich war, fand sie. Doch ihr Vater schien ihn
wunderschön zu finden.
„Komm, ich will dir was zeigen.“
Fast hätte sie ihn wegen des lauten Windes nicht gehört, aber sie
hatte gute Ohren. Neugierig ließ sie sich von ihrem Vater näher an
den Stamm heranführen. Er legte seine Hand auf die Rinde.
„Deine Mutter hat mir erzählt, dass
sie hierher kam, nachdem sie erfahren hat, dass sie nie ein eigenes
Kind haben wird“, erklärte er und lächelte leicht. Dabei wirkte
er weit, weit weg, als hätte er sich in seinen Gedanken verloren und
das hätte er vielleicht, wenn nicht dieses kleine Mädchen neben ihm
gestanden hätte.
„Aber Mommy hat doch ein Kind
bekommen“, widersprach die Schwarzhaarige. Sie sagte es trotzig,
als wäre es eine ganz gemeine Lüge zu behaupten, ihre Mutter würde
kein Kind haben können.
Er kniete sich erneut runter zu seiner
Tochter und legte eine Hand an ihre Wange. Sanft sagte er ihr: „Das
stimmt. Wir haben dich bekommen. Wir haben dich adoptiert, als du
noch sehr klein warst. Das weißt du doch.“
Sie nickte kräftig. „Ich weiß, dass
ich nicht aus Mommys Bauch gekommen bin. Aber sie hat gesagt, dass da
ein Kind in ihrem Bauch war.“
Die nächsten Worte wählte er mit
Bedacht: „Da war ein Kind in Mommys Bauch, aber das Kind ist tot,
genauso wie Mommy.“
Die Augen des kleinen Mädchens füllten
sich mit Tränen und er nahm seine Tochter in die Arme, drückte sie
an seine Brust, gab ihr Wärme und Liebe und weinte mit ihr. Der Wind
wurde immer kräftiger, zerrte immer stärker und stärker an ihnen.
„Mommy wird immer bei uns sein, in
unseren Herzen“, sagte er der Kleinen, sobald er wieder sprechen
konnte und sie sich die Tränen aus den Augen wischte. Nickend
schniefte sie und er nahm sie unter den Armen und hob sie hoch,
deutete auf das in den Baum geritzte Herz mit den zwei Buchstaben.
„Clare und Dane“, sagte das
schwarzhaarige Mädchen. Ihr Vater war überrascht, dass sie
verstand, wofür die Buchstaben standen. Seine Tochter wandte ihm den
Kopf zu. „Der Baum wird auch immer bei Mommy sein.“ Dem
Vierzigjährigen traten erneut die Tränen in die Augen bei dem
festen, glaubhaften Ton in der Stimme seiner Tochter.
„Ja“, brachte er hervor. „Der
Baum wird auch immer bei Mommy sein. Das ist nämlich eine Eiche.
Weißt du, was das bedeutet?“ Er setzte das kleine Mädchen wieder
auf ihre eigenen Füße und griff ihre Hand. Mit langsamen Schritten
entfernten sie sich von dem Baum.
„Nein. Was bedeutet eine Eiche?“,
wollte sie wissen und sie legten immer mehr Entfernung zwischen sich
und den Baum, stiegen jetzt bereits den Hügel hinunter.
„Die Eiche steht für
Unsterblichkeit. Das heißt, dass Mommy für immer in unseren Herzen
bei uns ist.“
Das kleine Mädchen fasste sich an die
Brust und schaute noch einmal zurück zu der Eiche. Dann lächelte
sie und als es zu regnen begann, dachte sie daran, dass sie auch
unsterblich sein wollte, wenn sie tot war, wie ihre Mommy. Sie würden
zusammen unsterblich sein. Das war ein schöner Gedanke.
Während der Regen Vater und Tochter
durchnässte und die Eiche in immer weitere Ferne rückte, hatte auch
er schöne Gedanken. Zum ersten Mal, seit seine Frau gestorben war,
hatte er schöne Gedanken, die sich auch schön anfühlten. Zum
ersten Mal war seine schier endlose Traurigkeit durchbrochen worden
und er glaubte an seine eigenen Worte. Aber noch viel mehr glaubte er
an die Worte seiner Tochter. Seine Clare würde immer bei der Eiche
sein.
Dort würde er sie immer finden können,
wie unerreichbar sie auch zu sein schien, denn so war es immer mit
Clare und ihm gewesen: Selbst wenn sie voreinander weggelaufen waren,
hatten sie sich letztendlich fangen lassen und das Weglaufen
aufgegeben, um sich stattdessen unter die Eiche zu setzen und der
Ruhe nach dem Sturm zu lauschen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen