Samstag, 21. Juni 2014

Challenge 52/52: Zu leben

Meine dritte Geschichte ist fertig. Dieses Mal ging's mir ein bisschen leichter von der Hand.

Wort: Hoffnung
Wörter: 1650


Zu leben

Ich habe gesucht, in den hintersten Winkeln, in den entlegensten Ecken. Doch nichts vermag es den Umstand zu ändern, dass diese Welt, meine Welt, die Welt, in der wir leben, nur noch aus grauer Asche, eingefallenen Ruinen und zerbröselnden Knochen besteht.
Von dem Dach eines Hochhauses blicke ich auf die zerstörte, verlassene Stadt. Die Zeit hier scheint eingefroren, denn nach dem Ende geht es nicht weiter. Niemand ist da, um die Häuser wieder aufzubauen, die Autos von den Straßen zu räumen, die ausgeraubten Läden neu zu eröffnen. Es ist noch nicht mal jemand da, um über die tote Stadt zu trauern. Ich bin zwar hier, um die Trostlosigkeit zu betrachten, aber ich empfinde dabei keine Traurigkeit.
Ich empfinde überhaupt nichts. Still stehe ich da am Rande des Daches und blickte auf den Asphalt, richte meinen Blick gen Horizont. Auf meinen Rücken ist eine Waffe geschnallt, die ich bloß bei mir trage und benutze, weil mein Überlebensinstinkt es mir befiehlt. Das ist die einzige Macht, gegen die ich nicht ankomme. Das Einzige, was mich am Leben erhält.
Außerhalb der Stadt befindet sich ein Camp mit Überlebenden. Ich habe mich rausgeschlichen. Nicht, weil ich ein rebellischer Teenager bin. Ich bin 19. Ich bin kein Kind mehr. Keiner, der das Ende gesehen hat, ist noch ein Kind. Das Ende nimmt einem alle Unschuld. Und mir hat es alle Hoffnung genommen.
Im Camp sind wir sicher, aber ich habe genug Filme und Fernsehshows über solche Sachen gesehen. Mag sein, dass wir jetzt sicher sind, aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir es nicht mehr sind.
„Even“, ertönt eine atemlose Stimme hinter mir. „Ich hab dich überall gesucht.“ Ich drehe mich nicht um. Das Mädchen mit den langen blonden Haaren hinter mir hat es sich aus irgendeinem Grund zur Aufgabe gemacht, auf mich aufzupassen. Ich hasse sie fast dafür, aber nur fast. Eigentlich ist es mir egal, so wie mir alles egal ist, seit das Ende gekommen ist und feststeht, dass wir alle sterben werden.
„Ich hätte gleich hier nachsehen sollen. Ich wusste, dass du hier sein würdest“, sagt sie und kommt auf mich zu. Ihr Name ist Annely und sie ist wunderschön. Vor dem Ende hätte ich sie wunderschön gefunden.
„Was willst du von mir?“, frage ich, als sie sich neben mich stellt. Auch sie blickt auf die ausgestorbene Stadt, mit großen, lebendigen Augen. Ob sie etwas anderes sieht, als ich? Ob sie dort etwas sieht, wo sich nichts mehr befindet?
„Dass du lächelst. Ich will dich einmal lächeln sehen“, meint sie und wandet mir ihr Gesicht zu. „Zu lächeln steht dir sicher gut. Jeder Mensch sieht mit einem Lächeln im Gesicht gut aus.“ Spricht sie von einem Lächeln, wie sie es jetzt trägt? Ihre Augen scheinen dabei zu leuchten. Vielleicht ist das auch nur die Sonne, die in meinem Rücken untergeht.
„Es gibt keinen Grund zu lächeln“, erwidere ich, setze mich auf den Boden und lege mich schließlich auf den Rücken. Wenn ich den Himmel betrachte, der heute strahlend blau und wolkenlos ist, kann ich mich fast daran erinnern, wie sich Hoffnung anfühlte.
Sie legt sich neben mich. „Es gibt immer einen Grund zu lächeln. Weil wir es soweit geschafft haben. Weil wir am Leben sind. Weil es irgendwann ganz bestimmt besser werden wird.“
„Warum sollte es besser werden?“ Sie erweckt in mir beinahe den Wunsch, ihr das auszureden, woran sie glaubt. Ich verstehe nicht, wie jemand so naiv sein kann, nachdem, was passiert ist.
„Es wird besser werden. Ich weiß das“, sagt sie zuversichtlich und daran glaubt sie anscheinend wirklich. Ich denke, Leute wie sie reden es sich bloß ein. Sie leben nach diesem Motto: die Hoffnung stirbt zuletzt. Tatsächlich klammern sie sich daran fest, weil sie der Wahrheit nicht ins Auge blicken wollen.
Seltsamerweise sind genau diese Leute, die eine Lüge leben, diejenigen, die in Weltuntergangsgeschichten immer wieder dem Tod entwischen. Jene, die die Hoffnung verloren haben, sterben und ich bin einer von ihnen. Bald werde ich sterben. Es ist nur eine Frage der Zeit.
„Gehen wir zurück. Hier ist es nicht sicher.“ Sie steht auf und hält mir ihre Hand hin, um mir aufzuhelfen. Ich ignoriere sie geflissentlich, überlege liegen zu bleiben, aber es hat keinen Sinn. Sie wird solange hierbleiben, bis ich mit ihr zurückgehe und da macht es keinen Unterschied, ob ich mit ihr gehe oder sie hier bei mir ist.
Schweigend steigen wir die vielen Stufen des Hochhauses hinab und laufen durch die leeren Straßen. Die Sonne ist vom Himmel verschwunden, aber noch ist es hell, der Himmel babyblau und schweinchenrosa. Den Himmel finde ich auch jetzt noch wunderschön, nur genießen kann ich seine Schönheit nicht mehr.
Und dann passiert es: der Himmel über uns wird dunkel. Reflexartig ziehe ich meine Waffe, ein altes Gewehr, das meinem Großvater gehört hat. Annely ist vor Schreck erstarrt. Ich höre sie neben mir geräuschvoll ein und aus atmen. Ist dies der Moment?, frage ich mich. Werde ich jetzt sterben?
Ich habe keine Angst. Wenn alle Hoffnung verloren ist, ist auch alle Angst verloren, denn es gibt nichts mehr zu verlieren. Innerlich ist man bereits tot. Der tatsächliche Tod macht da keinen Unterschied mehr.
Doch für Annely macht es einen Unterschied. Sie hat Angst. Und obwohl ich diese Angst, ihre Denkweise, sie als Person töricht und verleugnend finde und wünschte, sie würde verstehen, dass alles, was sie tut, keinen Sinn hat, will ich sie in diesem Moment beschützen.
Wie in Zeitlupe drehe ich mich zu ihr. Sie starrt in den Himmel, scheint meinen Blick aber zu spüren, denn ihre Augen richten sich auf mich. Ihr Mund ist halb geöffnet, als wolle sie aufschreien oder etwas sagen. In ihren Augen sehe ich Schreck und dann Ungläubigkeit, als ich nach ihrem Arm greife.
Mit einem Ruck läuft die Zeit wieder in normalem Tempo und ich beginne zu rennen, mit der einen Hand ihren Arm umschlossen und mit der anderen das Gewehr. Stolpernd beginnt auch sie zu rennen. Zuerst ziehe ich sie eher, aber sie holt schnell auf, denn auch sie hat einen Überlebensinstinkt, der stärker ist als Alles. Ob Hoffnung diesen seit Urzeiten verankerten Willen zu leben verstärkt? So muss es sein, als sie meine Gedanken zu erraten scheint und die Stufen zu einem Hauseingang hinaufrennt, jetzt mich hinter sich herziehend.
Ihr Fuß bleibt an der Türkante hängen und sie fällt zu Boden. Ich kann nicht rechtzeitig reagieren und falle ebenfalls hin, stoßen mit meinen Knien hart auf den Steinstufen vor der Haustür auf. Der Schmerz rauscht durch mich hindurch und ist das erste reale Gefühl seit Langem.
„Even!“, höre ich sie rufen und sehe ihr Gesicht vor meinem. Sie sitzt im Türrahmen, eine Hand nach mir ausgestreckt, auf ihrem Gesicht nach wie vor Furcht, aber auch Sorge und ich frage mich, warum sie nicht weiterläuft, denn sie scheint nicht verletzt. Doch da sie Hoffnung hat, würde sie mich natürlich nie zurücklassen. Fast bringt es mich zum Lächeln. „Schon gut. Mir fehlt nichts“, will ich ihr sagen und aufstehen, in dem Augenblick sehe ich blanken Horror auf ihrem Gesicht. Sie sieht nicht länger mich an, sondern schaut auf etwas hinter mir.
Ich realisiere es in dem Moment, in es mich durchbohrt. Erneut durchzuckt Schmerz meinen Körper und ich keuche auf, weil das Gefühl so intensiv ist. Meine Augen suchen Annely, doch sie sitzt nicht länger im Türrahmen. Wo ist sie hin? Sie muss weitergelaufen sein. Erleichterung durchströmt mich.
Ein erneuter Ruck geht durch meinen Körper, als es herausgezogen wird. Ich höre Stimmen, aber sie verstummen rasch wieder. Ich wünschte, ich könnte den Himmel sehen. Stattdessen erwartet mich Schwärze hinter meinen schwerer werdenden Augenlidern.
„Even“, schluchzt Annely, die plötzlich zurück ist, und ich spüre Wärme an meiner Wange. „Even!“
„Sei nicht so laut, sonst kommen sie zurück“, bringe ich hervor. Meine Stimme ist rau und meine Zunge schwer. Ich schaffe es, meine Augen geöffnet zu halten und sie anzusehen. Tränen laufen ihr übers Gesicht, während ihr Daumen über meine Wange streicht und sie fest die Lippen aufeinander presst, leicht mit dem Kopf schüttelnd.
„Das musste passieren. Wir werden alle sterben“, sage ich und meine Stimme kling ungewöhnlich sanft, trotz der Schwere des Sprechens. Das Atmen fällt mir schwer.
„Idiot, das weiß ich doch!“, stößt sie hervor. „So ist das Leben. Wir werden geboren und wir sterben. Daran hat sich nichts geändert, Even. Daran hat sich nie etwas geändert. Das Leben ist immer noch das Gleiche, nur die Bedingungen sind anders. Und solange wir leben, können sich die Bedingungen wieder ändern!“
Versucht sie mir während ich sterbe, beizubringen das Leben wieder wertzuschätzen?
Meine Mundwinkel gehen nach oben. „Verliere deine Hoffnung nicht. Hoffnung ist das Einzige, was diesem Leben noch einen Wert gibt.“ Meine Worte sind kaum noch ein Flüstern und ich muss husten, sehe Blut vor mir auf den Steinstufen. Sie schluchzt.
„Even...“ Sie sagt irgendetwas, aber ich kann sie nicht mehr hören und gleich darauf kann ich sie nicht mehr sehen. Es wird dunkel, aber es ist überraschend warm und nicht so endgültig und trostlos wie ich es immer erwartet hatte.
Das ist ihr Verdienst. Dank ihr weiß ich wieder, was Hoffnung ist. Dank ihr kommt es mir vor, als wäre ich nicht umsonst gestorben, obwohl ich den Tod bis vor ein paar Minuten als das Schicksal aller Menschen angesehen habe. Und das ist er auch – der Tod ist das Schicksal aller Menschen, weil wir geboren werden und sterben. Ich habe es auf eine vernichtende Weise gesehen und nicht als etwas natürliches, deshalb hatte ich alle Hoffnung verloren. Ich hatte mir selbst die Hoffnung genommen.
Vielleicht gibt es tatsächlich kein besseres Morgen. Vielleicht bringt am Ende alles Hoffen und Kämpfen keine Veränderung. Aber was zählt ist, dass wir leben und dieses Leben nicht damit verschwenden, uns vom Tod beherrschen zu lassen.
Das sind meine letzten Gedanken. Die letzten Gedanken eines Hoffnungslosen, der wieder Hoffnung gefunden hat.

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