Wort: Hoffnung
Wörter: 1650
Zu leben
Ich
habe gesucht, in den hintersten Winkeln, in den entlegensten Ecken.
Doch nichts vermag es den Umstand zu ändern, dass diese Welt, meine
Welt, die Welt, in der wir leben, nur noch aus grauer Asche,
eingefallenen Ruinen und zerbröselnden Knochen besteht.
Von
dem Dach eines Hochhauses blicke ich auf die zerstörte, verlassene
Stadt. Die Zeit hier scheint eingefroren, denn nach dem Ende geht es
nicht weiter. Niemand ist da, um die Häuser wieder aufzubauen, die
Autos von den Straßen zu räumen, die ausgeraubten Läden neu zu
eröffnen. Es ist noch nicht mal jemand da, um über die tote Stadt
zu trauern. Ich bin zwar hier, um die Trostlosigkeit zu betrachten,
aber ich empfinde dabei keine Traurigkeit.
Ich
empfinde überhaupt nichts. Still stehe ich da am Rande des Daches
und blickte auf den Asphalt, richte meinen Blick gen Horizont. Auf
meinen Rücken ist eine Waffe geschnallt, die ich bloß bei mir trage
und benutze, weil mein Überlebensinstinkt es mir befiehlt. Das ist
die einzige Macht, gegen die ich nicht ankomme. Das Einzige, was mich
am Leben erhält.
Außerhalb
der Stadt befindet sich ein Camp mit Überlebenden. Ich habe mich
rausgeschlichen. Nicht, weil ich ein rebellischer Teenager bin. Ich
bin 19. Ich bin kein Kind mehr. Keiner, der das Ende gesehen hat, ist
noch ein Kind. Das Ende nimmt einem alle Unschuld. Und mir hat es
alle Hoffnung genommen.
Im
Camp sind wir sicher, aber ich habe genug Filme und Fernsehshows über
solche Sachen gesehen. Mag sein, dass wir jetzt sicher sind, aber es
ist nur eine Frage der Zeit, bis wir es nicht mehr sind.
„Even“,
ertönt eine atemlose Stimme hinter mir. „Ich hab dich überall
gesucht.“ Ich drehe mich nicht um. Das Mädchen mit den langen
blonden Haaren hinter mir hat es sich aus irgendeinem Grund zur
Aufgabe gemacht, auf mich aufzupassen. Ich hasse sie fast dafür,
aber nur fast. Eigentlich ist es mir egal, so wie mir alles egal ist,
seit das Ende gekommen ist und feststeht, dass wir alle sterben
werden.
„Ich
hätte gleich hier nachsehen sollen. Ich wusste, dass du hier sein
würdest“, sagt sie und kommt auf mich zu. Ihr Name ist Annely und
sie ist wunderschön. Vor dem Ende hätte ich sie wunderschön
gefunden.
„Was
willst du von mir?“, frage ich, als sie sich neben mich stellt.
Auch sie blickt auf die ausgestorbene Stadt, mit großen, lebendigen
Augen. Ob sie etwas anderes sieht, als ich? Ob sie dort etwas sieht,
wo sich nichts mehr befindet?
„Dass
du lächelst. Ich will dich einmal lächeln sehen“, meint sie und
wandet mir ihr Gesicht zu. „Zu lächeln steht dir sicher gut. Jeder
Mensch sieht mit einem Lächeln im Gesicht gut aus.“ Spricht sie
von einem Lächeln, wie sie es jetzt trägt? Ihre Augen scheinen
dabei zu leuchten. Vielleicht ist das auch nur die Sonne, die in
meinem Rücken untergeht.
„Es
gibt keinen Grund zu lächeln“, erwidere ich, setze mich auf den
Boden und lege mich schließlich auf den Rücken. Wenn ich den Himmel
betrachte, der heute strahlend blau und wolkenlos ist, kann ich mich
fast daran erinnern, wie sich Hoffnung anfühlte.
Sie
legt sich neben mich. „Es gibt immer einen Grund zu lächeln. Weil
wir es soweit geschafft haben. Weil wir am Leben sind. Weil es
irgendwann ganz bestimmt besser werden wird.“
„Warum
sollte es besser werden?“ Sie erweckt in mir beinahe den Wunsch,
ihr das auszureden, woran sie glaubt. Ich verstehe nicht, wie jemand
so naiv sein kann, nachdem, was passiert ist.
„Es
wird besser werden. Ich weiß das“, sagt sie zuversichtlich und
daran glaubt sie anscheinend wirklich. Ich denke, Leute wie sie reden
es sich bloß ein. Sie leben nach diesem Motto: die Hoffnung stirbt
zuletzt. Tatsächlich klammern sie sich daran fest, weil sie der
Wahrheit nicht ins Auge blicken wollen.
Seltsamerweise
sind genau diese Leute, die eine Lüge leben, diejenigen, die in
Weltuntergangsgeschichten immer wieder dem Tod entwischen. Jene, die
die Hoffnung verloren haben, sterben und ich bin einer von ihnen.
Bald werde ich sterben. Es ist nur eine Frage der Zeit.
„Gehen wir zurück. Hier ist es nicht sicher.“ Sie steht auf und
hält mir ihre Hand hin, um mir aufzuhelfen. Ich ignoriere sie
geflissentlich, überlege liegen zu bleiben, aber es hat keinen Sinn.
Sie wird solange hierbleiben, bis ich mit ihr zurückgehe und da
macht es keinen Unterschied, ob ich mit ihr gehe oder sie hier bei
mir ist.
Schweigend
steigen wir die vielen Stufen des Hochhauses hinab und laufen durch
die leeren Straßen. Die Sonne ist vom Himmel verschwunden, aber noch
ist es hell, der Himmel babyblau und schweinchenrosa. Den Himmel
finde ich auch jetzt noch wunderschön, nur genießen kann ich seine
Schönheit nicht mehr.
Und
dann passiert es: der Himmel über uns wird dunkel. Reflexartig ziehe
ich meine Waffe, ein altes Gewehr, das meinem Großvater gehört hat.
Annely ist vor Schreck erstarrt. Ich höre sie neben mir geräuschvoll
ein und aus atmen. Ist dies der Moment?, frage ich mich. Werde ich
jetzt sterben?
Ich
habe keine Angst. Wenn alle Hoffnung verloren ist, ist auch alle
Angst verloren, denn es gibt nichts mehr zu verlieren. Innerlich ist
man bereits tot. Der tatsächliche Tod macht da keinen Unterschied
mehr.
Doch
für Annely macht es einen Unterschied. Sie hat Angst. Und obwohl ich
diese Angst, ihre Denkweise, sie als Person töricht und verleugnend
finde und wünschte, sie würde verstehen, dass alles, was sie tut,
keinen Sinn hat, will ich sie in diesem Moment beschützen.
Wie
in Zeitlupe drehe ich mich zu ihr. Sie starrt in den Himmel, scheint
meinen Blick aber zu spüren, denn ihre Augen richten sich auf mich.
Ihr Mund ist halb geöffnet, als wolle sie aufschreien oder etwas
sagen. In ihren Augen sehe ich Schreck und dann Ungläubigkeit, als
ich nach ihrem Arm greife.
Mit
einem Ruck läuft die Zeit wieder in normalem Tempo und ich beginne
zu rennen, mit der einen Hand ihren Arm umschlossen und mit der
anderen das Gewehr. Stolpernd beginnt auch sie zu rennen. Zuerst
ziehe ich sie eher, aber sie holt schnell auf, denn auch sie hat
einen Überlebensinstinkt, der stärker ist als Alles. Ob Hoffnung
diesen seit Urzeiten verankerten Willen zu leben verstärkt? So muss
es sein, als sie meine Gedanken zu erraten scheint und die Stufen zu
einem Hauseingang hinaufrennt, jetzt mich hinter sich herziehend.
Ihr
Fuß bleibt an der Türkante hängen und sie fällt zu Boden. Ich
kann nicht rechtzeitig reagieren und falle ebenfalls hin, stoßen mit
meinen Knien hart auf den Steinstufen vor der Haustür auf. Der
Schmerz rauscht durch mich hindurch und ist das erste reale Gefühl
seit Langem.
„Even!“,
höre ich sie rufen und sehe ihr Gesicht vor meinem. Sie sitzt im
Türrahmen, eine Hand nach mir ausgestreckt, auf ihrem Gesicht nach
wie vor Furcht, aber auch Sorge und ich frage mich, warum sie nicht
weiterläuft, denn sie scheint nicht verletzt. Doch da sie Hoffnung
hat, würde sie mich natürlich nie zurücklassen. Fast bringt es
mich zum Lächeln. „Schon gut. Mir fehlt nichts“, will ich ihr
sagen und aufstehen, in dem Augenblick sehe ich blanken Horror auf
ihrem Gesicht. Sie sieht nicht länger mich an, sondern schaut auf
etwas hinter mir.
Ich
realisiere es in dem Moment, in es mich durchbohrt. Erneut durchzuckt
Schmerz meinen Körper und ich keuche auf, weil das Gefühl so
intensiv ist. Meine Augen suchen Annely, doch sie sitzt nicht länger
im Türrahmen. Wo ist sie hin? Sie muss weitergelaufen sein.
Erleichterung durchströmt mich.
Ein
erneuter Ruck geht durch meinen Körper, als es herausgezogen wird.
Ich höre Stimmen, aber sie verstummen rasch wieder. Ich wünschte,
ich könnte den Himmel sehen. Stattdessen erwartet mich Schwärze
hinter meinen schwerer werdenden Augenlidern.
„Even“,
schluchzt Annely, die plötzlich zurück ist, und ich spüre Wärme
an meiner Wange. „Even!“
„Sei
nicht so laut, sonst kommen sie zurück“, bringe ich hervor. Meine
Stimme ist rau und meine Zunge schwer. Ich schaffe es, meine Augen
geöffnet zu halten und sie anzusehen. Tränen laufen ihr übers
Gesicht, während ihr Daumen über meine Wange streicht und sie fest
die Lippen aufeinander presst, leicht mit dem Kopf schüttelnd.
„Das
musste passieren. Wir werden alle sterben“, sage ich und meine
Stimme kling ungewöhnlich sanft, trotz der Schwere des Sprechens.
Das Atmen fällt mir schwer.
„Idiot,
das weiß ich doch!“, stößt sie hervor. „So ist das Leben. Wir
werden geboren und wir sterben. Daran hat sich nichts geändert,
Even. Daran hat sich nie etwas geändert. Das Leben ist immer noch
das Gleiche, nur die Bedingungen sind anders. Und solange wir leben,
können sich die Bedingungen wieder ändern!“
Versucht
sie mir während ich sterbe, beizubringen das Leben wieder
wertzuschätzen?
Meine
Mundwinkel gehen nach oben. „Verliere deine Hoffnung nicht.
Hoffnung ist das Einzige, was diesem Leben noch einen Wert gibt.“
Meine Worte sind kaum noch ein Flüstern und ich muss husten, sehe
Blut vor mir auf den Steinstufen. Sie schluchzt.
„Even...“
Sie sagt irgendetwas, aber ich kann sie nicht mehr hören und gleich
darauf kann ich sie nicht mehr sehen. Es wird dunkel, aber es ist
überraschend warm und nicht so endgültig und trostlos wie ich es
immer erwartet hatte.
Das
ist ihr Verdienst. Dank ihr weiß ich wieder, was Hoffnung ist. Dank
ihr kommt es mir vor, als wäre ich nicht umsonst gestorben, obwohl
ich den Tod bis vor ein paar Minuten als das Schicksal aller Menschen
angesehen habe. Und das ist er auch – der Tod ist das Schicksal
aller Menschen, weil wir geboren werden und sterben. Ich habe es auf
eine vernichtende Weise gesehen und nicht als etwas natürliches,
deshalb hatte ich alle Hoffnung verloren. Ich hatte mir selbst die
Hoffnung genommen.
Vielleicht
gibt es tatsächlich kein besseres Morgen. Vielleicht bringt am Ende
alles Hoffen und Kämpfen keine Veränderung. Aber was zählt ist,
dass wir leben und dieses Leben nicht damit verschwenden, uns vom Tod
beherrschen zu lassen.
Das
sind meine letzten Gedanken. Die letzten Gedanken eines
Hoffnungslosen, der wieder Hoffnung gefunden hat.
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