Kurze Info vorweg: Bei dieser Kurzgeschichte handelt es sich um eine Fanfiktion. Die Charaktere gehören mir nicht und die Art, wie ich sie darstelle, basiert auf dem Originalwerk. Ohne Vorwissen könnte die Kurzgeschichte etwas verwirrend sein, aber ich denke, man kann sie trotzdem genießen.
(Kommentar zu dem Anime, der mir diese Kurzgeschichte beschert hat: Free! Iwatobi Swim Club)
Wort: Wasser
Wörter: 922
Wo alle Fragen und alle Antworten liegen
Es leckte an meinen Füßen, umspielte meine Beine, rauschte mir in
den Ohren. Ich formte meine Hände zu einer Schale und schöpfte
etwas hinein, betrachtete es gedankenverloren und doch gedankenklar.
Ich war verloren in der Klarheit meiner Gedanken und klar in der
Verlorenheit.
Ein kleines Lächeln umspielte meine Lippen.
Wie das Wasser. Es war, wie das Wasser.
Man konnte versinken oder an der Oberfläche treiben. Und wenn man
dicht unter der Wasseroberfläche schwamm, konnte man beides – an
der Oberfläche treiben und gleichzeitig war man versunken. Das
Wasser war auch genauso eine eigene Welt wie meine Gedankenwelt.
Langsam ließ ich es mir durch die Finger gleiten, öffnete den Spalt
zwischen meinen Händen und die Spalten zwischen meinen Fingern, bis
nur noch einzelne Wassertropfen von meiner Haut perlten.
Bedächtig hob ich den Kopf und blickte hinaus auf das Meer, das vor
mir lag. Immer wieder und wieder wurden die Wellen ans Ufer gespült,
leckten an dem Strand, umspülten den unteren Teil meines Körpers.
Ein ums andere Mal war ich froh, immer meine Badehose unter meinen
Klamotten zu tragen. Das war eine Angewohnheit, die ich mir mehr
zufällig angeeignet hatte und nie wieder ablegen wollte.
Tief atmete ich ein und aus und blickte gen Horizont.
Was genau tat ich hier eigentlich?
Natürlich, ich bewunderte die Schönheit des Wassers und das hätte
ich noch ewig, bis an mein Lebensende tun können. Es wurde nie
langweilig und es war ganz sicher keine verschwendete Zeit.
Und doch war das Wasser nicht der Grund, warum ich hier saß. Es wäre
schön, wenn es so wäre. Das wäre schön und einfach. Ich würde
einfach nur hier sitzen und das Wasser betrachten, nichts anderes.
Wie gerne würde ich das tun.
Viel eher saß ich aber wohl hier, damit das Wasser mich abholte,
mich mitnahm und verschluckte und befreite. Mir alles nahm, was ich
nicht wollte. Mir alles nahm, was mich daran hinderte, jetzt und hier
bloß die Schönheit des Wassers zu betrachten.
Mir entwich ein tonloses Seufzen und ich schöpfte wieder eine
handvoll Wasser, blickte hinein und sah alles und gleichzeitig
nichts.
Da waren sie: all die Fragen, die ich mir stellte und auf die ich
keine Antwort hatte und all die Antworten, nach denen ich nicht
gefragt hatte. Keine Frage passte zu einer Antwort und keine Antwort
passte zu einer Frage. Keins dieser Puzzelteile wollte sich
ineinander fügen.
Suchte ich bloß in dem falschen Wasser?
Rasch schöpfte ich eine neue handvoll, blickte hinein und sah das
Selbe, wie zuvor.
Es war nicht das Wasser, was ich sah. Ich sah mich darin, meine
Gedanken, meine Wünsche und Träume, meine Ängste und Sorgen,
alles, alles von mir. Es war alles da, in dem Wasser, in diesem
Spiegel.
Ich konnte meine eigenen, blauen Augen sehen und fragte mich, wie sie
so ruhig und gleichzeitig so stürmisch sein konnten.
Könnte ich nicht immer die ruhige See sein?
Sturm. Rin war der Sturm.
Er war der Sturm, der über alles hinwegfegte und bloß Verwüstung
und Chaos hinterließ. Unbedacht, ungestüm riss er alles an sich und
ließ nichts als Traurigkeit, Verzweiflung, Verwirrung und Sehnsucht
zurück, widerstreitige Gefühle, die nicht zusammenzupassen schienen
und doch beide gleichermaßen da waren. Wie die Fragen und die
Antworten.
Erneut ließ ich das Wasser durch meine Finger fließen und vergrub
das Gesicht in ihnen, atmete das Meerwasser ein, fühlte es, lebte
es.
Was war Makoto? War er die ruhige See?
Vielleicht. Vielleicht war er meine ruhige See.
Das war ein schöner Gedanke. Ein sehr schöner Gedanke.
Ich brauchte eine ruhige See.
Nach dem Sturm brauchte ich eine ruhige See.
Ich brauchte auch den Sturm.
Oder?
Was war schon eine ruhige See ohne einen wütenden Sturm zuvor?
Ich senkte meine Hände und presste die Lippen aufeinander. Am
Horizont leuchtete golden die Sonne und ließ das Wasser golden
schimmern. Die ganze Umgebung war in dieses goldene Licht getaucht.
Es war wunderschön. Fast so wunderschön wie das Wasser.
Für einen Moment spielte ich mit dem Gedanken mich einfach von dem
auffordernd an mir ziehendem Wasser mitreißen zu lassen. Ich würde
rausschwimmen, ganz weit rausschwimmen. So weit, bis ich alles hinter
mir gelassen hatte. So weit, bis weder die Fragen noch die Antworten
mehr existierten. So weit, bis ich vergaß, was Sturm und ruhige See
bedeuteten.
So weit, bis ich Rin und Makoto nicht mehr kannte.
Erschrocken stand ich auf.
Ich konnte nicht weglaufen. Ich konnte davor nicht weglaufen. Ich
konnte nicht vor Rin weglaufen. Einem Sturm konnte man nicht
entfliehen.
Ich konnte nicht davonschwimmen. Wie sehr ich es auch wollte. Wie
schön es auch wäre.
Das war nur ein Traum, eine Vorstellung, aber keine Option.
Eine ganze Weile stand ich noch da und blickte auf das Meer, das sich
stetig in Bewegung befindende Wasser. Hin und wieder umspülte es
meine Füße. Ich spürte und roch es. Ich wusste, wie es war, wenn
man es lebte.
Doch daran dachte ich nicht. Daran dachte ich kein bisschen. Das
waren unbedeutende Hintergrundgedanken.
Ich dachte an Rin und an Makoto und an mich selbst.
Und ich wollte das Wasser sein, denn das Wasser wusste immer, was zu
tun war. Es schlängelte sich drum herum, überschwemmte, durchnässte
und das ohne zu zögern. Es brauchte keine Fragen und keine
Antworten. Es war einfach.
Warum konnten wir Menschen das nicht auch? Einfach sein?
Irgendwann – irgendwann würden wir das vielleicht können.
Irgendwann würde ich das vielleicht können. Einfach nur sein.
Irgendwann, wenn die Fragen sich beantworten ließen und die Fragen
der Antworten keine Bedeutung mehr hatten.
Das war mein Lebensziel. Irgendwann zu sein. Ganz und vollkommen zu
sein, wie das Wasser.
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