Dienstag, 12. August 2014

Challenge 52/52: Der Ausbruch

Zeit für meine fünfte Kurzgeschichte, die schon seit einer ganzen Weile fertig ist. Ich hatte sie schon fast vergessen.

Wort: Schlüssel
Wörter: 571


Der Ausbruch

 Es ist dunkel, sehr dunkel. Sie kann die eigene Hand vor ihren Augen nicht sehen. Ängstlich schlingt sie die Arme um ihre Beine und drückt ihr Gesicht auf ihre Knie. Ein Laut entweicht ihr, eine Art Wimmern oder Schluchzen, ein Laut der Verzweiflung.
Doch hier ist niemand, der sie hören könnte. Sie hat es bereits versucht. Am Anfang hat sie hemmungslos geweint, laut geschluchzt und geschrien, aber es ist niemand gekommen. Niemand hat sie gehört. Demnach hört sie auch jetzt niemand. Niemand wird sie je hören. Sie wird für immer hier eingesperrt sein, in der Dunkelheit.
Tränen rinnen ihre Wangen hinab. Niemanden kümmert es. Da ist niemand, den es kümmert, wo sie ist und wie sie sich fühlt. Sie ist ganz allein, in der Dunkelheit.
Alles, was ihr geblieben ist, sind die Gedanken in ihrem Kopf und ihre eigenen, kalten Hände. Ihre Finger umschließen einander, halten einander zusammen, so wie sie trotz allem versucht, sich selbst zusammenzuhalten. Aber ihre Gedanken sind so düster, wie die Schwärze, die sie umgibt und sie kann ihnen nicht entkommen, genauso wenig wie sie diesem Ort entkommen kann. Fortwährend kreisen sie durch ihren Kopf, diese Gedanken: Ich bin nutzlos. Ich bin wertlos. Ich bin ungeliebt. Ich bin ganz allein und ich werde für immer allein sein.
Sie schmerzen, diese Gedanken, mehr noch, als die Dunkelheit um sie herum. Diese Dunkelheit, sie könnte sie ertragen, wenn es in ihrem Kopf nicht so laut wäre, wenn ein Teil von ihr nicht denken würde, sie hätte diese Strafe verdient.
Ein Schluchzen entweicht ihr und sie presst die Lippen aufeinander, hält ihren zitternden Körper und versucht die Düsternis in ihrem Kopf zu vertreiben: Ich bin stark. Ich werde nicht aufgeben. Ich atme und lebe. Ich kann es schaffen.
Grob wischt sie sich übers Gesicht und öffnet ihre tränennassen Augen, da sieht sie ein Licht. Vor Überraschung ist sie wie erstarrt. Da ist ein Licht, ein Licht. Sie kann es nicht glauben, ein Licht. War es schon immer da? Langsam richtet sie sich auf. Die Dunkelheit um sie herum scheint nach ihr zu greifen und sie festhalten zu versuchen, doch sie sieht bloß das Licht, dieses feine Schimmern.
Es ist nur ein einziger Strahl, ein kleiner Punkt und dennoch ist es so hell und wunderschön. Sie kann den Blick nicht abwenden, kann ihren halb geöffneten Mund nicht schließen. Sie steht nur da und starrt es an, überwältigt und hoffnungsvoll.
Schließlich begreift sie, was dieses Licht ist, was es zu bedeuten hat und ihre Lippen werden zu einem kleinen Lächeln. Sie streckt dem Licht die Hand entgegen, als könne sie es greifen. Ihre Finger umschließen bloß Luft, aber sie kann es sehen, sie kann es so deutlich sehen. Da ist Licht. Da ist Licht.
Durch ein Schlüsselloch erhellt es den dunklen Ort, an dem sie sich befindet. Und wo ein Schlüsselloch ist, gibt es einen Schlüssel.
Ein Zittern durchfährt ihren Körper und neue Tränen bedecken ihre Wangen. Doch dieses Mal sind es Tränen der Freude und der Erleichterung und ein Zittern der Entschlossenheit. Sie wird es schaffen, sie wird hier rauskommen.


Mit einem Mal ist die Dunkelheit um sie herum weitaus weniger Angst einflößend und ihre Gedanken weitaus weniger erschreckend, denn mag sie auch durch die Schwärze gefangen genommen und einsperren sein, gibt es doch immer Hoffnung – ein Licht, das durch ein Schlüsselloch scheint – und einen Ausweg in Form eines Schlüssels, der sie aus ihrem eigenen Gefängnis zu befreien vermag.

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