Wort: Schlüssel
Wörter: 571
Der Ausbruch
Es ist dunkel, sehr dunkel. Sie kann die eigene Hand vor ihren Augen
nicht sehen. Ängstlich schlingt sie die Arme um ihre Beine und
drückt ihr Gesicht auf ihre Knie. Ein Laut entweicht ihr, eine Art
Wimmern oder Schluchzen, ein Laut der Verzweiflung.
Doch hier ist niemand, der sie hören könnte. Sie hat es bereits
versucht. Am Anfang hat sie hemmungslos geweint, laut geschluchzt und
geschrien, aber es ist niemand gekommen. Niemand hat sie gehört.
Demnach hört sie auch jetzt niemand. Niemand wird sie je hören. Sie
wird für immer hier eingesperrt sein, in der Dunkelheit.
Tränen rinnen ihre Wangen hinab. Niemanden kümmert es. Da ist
niemand, den es kümmert, wo sie ist und wie sie sich fühlt. Sie ist
ganz allein, in der Dunkelheit.
Alles, was ihr geblieben ist, sind die Gedanken in ihrem Kopf und
ihre eigenen, kalten Hände. Ihre Finger umschließen einander,
halten einander zusammen, so wie sie trotz allem versucht, sich
selbst zusammenzuhalten. Aber ihre Gedanken sind so düster, wie die
Schwärze, die sie umgibt und sie kann ihnen nicht entkommen, genauso
wenig wie sie diesem Ort entkommen kann. Fortwährend kreisen sie
durch ihren Kopf, diese Gedanken: Ich bin nutzlos. Ich bin
wertlos. Ich bin ungeliebt. Ich bin ganz allein und ich werde für
immer allein sein.
Sie schmerzen, diese Gedanken, mehr noch, als die Dunkelheit um sie
herum. Diese Dunkelheit, sie könnte sie ertragen, wenn es in ihrem
Kopf nicht so laut wäre, wenn ein Teil von ihr nicht denken würde,
sie hätte diese Strafe verdient.
Ein Schluchzen entweicht ihr und sie presst die Lippen aufeinander,
hält ihren zitternden Körper und versucht die Düsternis in ihrem
Kopf zu vertreiben: Ich bin stark. Ich werde nicht aufgeben. Ich
atme und lebe. Ich kann es schaffen.
Grob wischt sie sich übers Gesicht und öffnet ihre tränennassen
Augen, da sieht sie ein Licht. Vor Überraschung ist sie wie
erstarrt. Da ist ein Licht, ein Licht. Sie kann es nicht glauben, ein
Licht. War es schon immer da? Langsam richtet sie sich auf. Die
Dunkelheit um sie herum scheint nach ihr zu greifen und sie
festhalten zu versuchen, doch sie sieht bloß das Licht, dieses feine
Schimmern.
Es ist nur ein einziger Strahl, ein kleiner Punkt und dennoch ist es
so hell und wunderschön. Sie kann den Blick nicht abwenden, kann
ihren halb geöffneten Mund nicht schließen. Sie steht nur da und
starrt es an, überwältigt und hoffnungsvoll.
Schließlich begreift sie, was dieses Licht ist, was es zu bedeuten
hat und ihre Lippen werden zu einem kleinen Lächeln. Sie streckt dem
Licht die Hand entgegen, als könne sie es greifen. Ihre Finger
umschließen bloß Luft, aber sie kann es sehen, sie kann es so
deutlich sehen. Da ist Licht. Da ist Licht.
Durch ein Schlüsselloch erhellt es den dunklen Ort, an dem sie sich
befindet. Und wo ein Schlüsselloch ist, gibt es einen Schlüssel.
Ein Zittern durchfährt ihren Körper und neue Tränen bedecken ihre
Wangen. Doch dieses Mal sind es Tränen der Freude und der
Erleichterung und ein Zittern der Entschlossenheit. Sie wird es
schaffen, sie wird hier rauskommen.
Mit einem Mal ist die Dunkelheit um sie herum weitaus weniger Angst
einflößend und ihre Gedanken weitaus weniger erschreckend, denn mag
sie auch durch die Schwärze gefangen genommen und einsperren sein,
gibt es doch immer Hoffnung – ein Licht, das durch ein
Schlüsselloch scheint – und einen Ausweg in Form eines Schlüssels,
der sie aus ihrem eigenen Gefängnis zu befreien vermag.
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