Und hier ist Nr. 10! :D
Hab sogar schon die 11. Kurzgeschichte fertig. ;D
Wünsch euch viel Spaß beim Lesen. :*
Wort: Uhr
Wörter: 1320
Wenn die Zeit stillstehen würde
Halb schlafend stand er am Bahnhof und wartete auf die Straßenbahn,
die ihn zur Arbeit bringen würde. Er hatte in der letzten Nacht
wieder sehr wenig geschlafen, weil er einfach mit nichts fertig wurde
und mit dem Entspannen konnte er gar nicht erst anfangen, auch wenn
er es sich jeden Tag wieder vornahm und sich jeden Tag wieder schwor,
sich heute mal endlich einfach vor den Fernseher zu setzen und nichts
zu tun, außer auf den Flachbildschirm zu starren.
Seufzend stieg er ein, als die Bahn vorfuhr, und ließ sich auf einen
freien Platz fallen. Den zwanzigminütigen Weg verbrachte er wie in
Trance. Sein Kopf sank immer wieder leicht zur Seite und er blinzelte
fast ununterbrochen, damit seine Augen nicht einfach zufielen. Im
Büro würde er sich erstmal mit Kaffee versorgen, Zuhause hatte er
keinen mehr gehabt.
Nachdem er sich die Stufen in den zweiten Stock des Bürogebäudes
hochgeschleppt und seine Sachen an seinen Arbeitsplatz geräumt
hatte, schlich er rüber in den kleinen Pausenraum. Zehn Minuten.
Zehn Minuten lang würde er sich jetzt Ruhe gönnen!
Da jeder in der Redaktion viel Kaffee trank, stand eine fertige,
frische Kanne bereit. Es machte sich bereits Erleichterung in ihm
breit, als er die dunkle Flüssigkeit in eine Tasse goss. In aller
Ruhe setzte er sich auf einen Stuhl, der an einem kleinen Tisch
stand, und nahm einen ersten Schluck. Die Wärme des Getränks machte
ihn zunächst noch schläfriger, aber beim zweiten Schluck spürte er
die erste Wirkung des Koffein.
Er lehnte sich zurück und schloss für einen Moment die Augen.
„Hey, Tobias! Hier wird nicht geschlafen, sondern gearbeitet!“,
ertönte eine laute Stimme.
Erschrocken riss Tobias die Augen auf und rieb sich die Stirn, da ihm
mit einem Mal der Kopf schmerzte. „Das hier ist vor allem der
Pausenraum und da wird Pause gemacht“, meinte er und erkannte die
Person, die zuvor gesprochen hatte, als seinen Vorgesetzten, der für
die Abteilung zuständig war, in der Tobias arbeitete.
Als Klark sich ihm gegenüber an den Tisch setzte, war Tobias nicht
wirklich begeistert. Klark verkörperte aus Tobias Sicht viel zu sehr
diese Ideale von Attraktivität, Verantwortungsbewusstsein,
Höflichkeit und Fleiß. Im Grunde genommen verkörperte er also
Perfektionismus. Und das Schlimme war, die Dinge, die an ihm nicht
perfekt waren, machten ihn nur noch perfekter. Solche Menschen sollte
es gar nicht geben!
Doch keine Sekunde verstrich, da legte Klark sein perfektes Lächeln
ab und seufzte tief. „Pause machen, klingt gut.“ Wie Tobias
zuvor, lehnte er sich zurück und schloss die Augen.
„Wenn doch die Zeit stillstehen würde“, murmelte Tobias und nahm
einen weiteren Schluck von seinem Kaffee. Ehe er sich versah, sprach
er auch schon weiter: „Wenn die Zeit zum Stillstand kommen würde,
konnte man alles tun, wozu man sonst nie kommt und das, was man sonst
machte, könnte man trotzdem machen. Das wäre der Inbegriff von
Freiheit. Nie mehr Zeitdruck.“
„Du wärst also gerne unsterblich?“ Klark, der die Augen wieder
geöffnet hatte und Tobias amüsiert ansah, grinste.
„Es wäre schön, wenn alles, die ganze Welt unsterblich wäre.
Jeder hätte für alles eine, sogar mehrere Ewigkeiten Zeit“,
erwiderte Tobias und träumerische Begeisterung lag in seiner Stimme.
Er schien die Vorstellung ganz genau vor Augen zu haben, so wie er
ins Nichts schaute.
„Ist das tatsächlich das, was du willst? Ich glaube, ich weiß,
was du meinst. Aber wenn alles für immer wäre, wofür würde es
sich dann noch zu leben lohnen? Freude und Vorfreude würden langsam
aber sicher ihre Bedeutung verlieren. Alles würde langsam aber
sicher seine Bedeutung verlieren“, meinte Klark und blickte Tobias
mit erhobenen Augenbrauen an, nach dem Motto ''Ha, du weißt gar
nichts!''. Arroganz – Arroganz hatte Tobias vorher vergessen. Klark
war auch perfekt darin, arrogant zu sein.
Leider hatte er aber Recht und Tobias hörte schnell wieder auf,
seinen Vorgesetzten verärgert anzusehen, stattdessen rieb er sich
das Nasenbein und trank noch mehr Kaffee. Als er wieder zu Klark
hinüberschaute, der zufrieden grinsend aus seiner Kaffeetasse trank,
fielen ihm die dunklen Ringe unter Klarks Augen auf. Natürlich
machte auch das ihn noch perfekter, aber dies war das Erste, was
Tobias an seinem Vorgesetzten sah, dass ihn in erster Linie
menschlicher machte. Ob Klark genauso wenig schlief, wie Tobias
selbst? Oder sogar noch weniger? Als Zuständiger für eine
Abteilung, wenn es auch eine recht kleine und überschaubare war,
hatte man sicherlich einiges zu tun. Aus dieser Perspektive war es
echt eine Meisterleistung, was Klark jeden Tag vollbrachte.
Tobias schüttelte den Kopf. Bei seinem nächsten Schluck Kaffee kam
ihm eine Idee. „Uhren. Es sollten einfach alle Uhren abgeschafft
werden.“ Ein triumphierendes Lächeln schlich sich auf seine
Lippen.
Unterdessen zog Klark die Augenbrauen zusammen. Dachte er ernsthaft
nach? Nach ein paar Sekunden nickte er. „Ja, das wäre definitiv
interessant.“
„Es würde so viele Probleme lösen.“ Tobias trank seinen letzten
Schluck Kaffee und stand auf.
„Und es würde eine Menge Probleme verursachen“, sagte Klark
hinter ihm.
„Es gibt nichts, dass man nicht lösen könnte.“ Tobias füllte
seine Tasse ein zweites Mal mit Kaffee, die würde er mit an seinen
Arbeitsplatz nehmen. Als er sich umdrehte, stand Klark plötzlich
direkt vor ihm. Hätte ihn das nicht schon erschreckt, wäre er
spätestens erstarrt, als Klark sich zu ihm vorbeugte. Tobias hörte
auf zu atmen und ihre Oberkörper berührten sich. Im gleichen Moment
legte Klark die Arme um Tobias, um sich hinter dem Rücken des
anderen Mannes seine zweite Tasse Kaffee einzuschenken.
„Ohne Uhren wäre wahrscheinlich tatsächlich einiges besser.
Niemand müsste mehr auf die Minute genau sein. Man könnte sich nach
der Sonne richten oder man lebt einfach vor sich hin. Am Ende könnte
man nicht sagen, dass man Zeit verschwendet hätte, sondern man hätte
Tage oder Nächte verschwendet und das ist so gut wie unmöglich,
wenn man nicht unheimlich faul ist. Und falls man doch mal einen Tag
oder mehrere verschwendet, würde es auch keine Rolle spielen, denn
etwas auf die Minute genau zu tun, den Zeitplan einzuhalten, würde
es nicht mehr geben.“ Tobias hörte Klarks Stimme direkt neben
seinem Ohr und spürte seinen Atem. Er erschauderte.
Klark lehnte sich wieder zurück, aber nur soweit, dass sie einander
in die Augen sahen. Ihre Oberkörper berührten sich noch immer.
Tobias spürte den Atem seines Vorgesetzten auf seinen Lippen, als
dieser weitersprach: „Man müsste auch Kalender abschaffen, damit
es funktioniert und jeder müsste mitmachen oder es müsste zumindest
einen Ort geben, wo es alles gibt, was man zum Leben braucht, Uhren
und Kalender aber nicht existieren. Man dürfte diesen Ort nie
verlassen, weil man nicht wüsste, wie man sich nach der Zeit
richtet, aber ich glaube, das wäre es wert.“
„Dir scheint die Idee zu gefallen“, brachte Tobias hervor.
Klark senkte leicht den Kopf und hob ihn wieder an, als würde er
Nicken, bloß sehr langsam. „Durchaus“, erwiderte er und ein
kleines Lächeln, das sich in seinen Augen wiederfand, erhellte sein
Gesicht. Dieses Lächeln sah so unheimlich ehrlich aus, dass Tobias
zu wissen glaubte, warum viele auf diese Art von Attraktivität
standen.
Klarks Gesichtsausdruck veränderte sich mit einem Mal, als wäre ihm
etwas aufgefallen oder als hätte er etwas vergessen, vielleicht
Beides gleichzeitig. Unmerkbar langsam neigte Klark seinen Kopf
Tobias entgegen und für diesen Augenblick, als sich ihre Blicke
begegneten und Tobias Gesicht den gleichen, verloren-wissenden Blick
annahm, wie das von Klark, hätten sie Beide schwören können, dass
die Zeit tatsächlich stillstand.
Doch ruckartig wurden sie in die Realität zurückgerissen, als
jemand in den Pausenraum gerannt kam. „Klark, Tobias, hier seid
ihr! Wir warten schon alle auf euch!“
Hastig wandte Tobias den Kopf zur Seite, nachdem er mehrmals heftig
geblinzelt hatte. Klark hingegen blieb noch einen Augenblick länger
dicht vor Tobias stehen, tat dann aber einen entschiedenen Schritt
zurück. Tobias sah genau in dem Moment zu dem anderen Mann rüber,
als dieser kurz verwirrt die Augenbrauen zusammenzog.
In der nächsten Sekunde war der Ausdruck verschwunden. Tobias drehte
sich schnell um und nahm seine Tasse. Klark griff ebenfalls seine
Tasse. „Wir sind sofort da.“
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