Das ist dann Nr. 11. Bis 13 hab ich schon vorgeschrieben. ;D
Viel Spaß beim Lesen. :)
Wort: Maschine
Wörter: 1081
Wir sind alle gleich
Wie jeden Morgen erwachte er in seinem Bett. Wie jeden Morgen
schaltete er seinen Wecker aus und setzte sich auf. Wie jeden Morgen
stand er auf, ging rüber zu seinem Schrank und suchte sich seine
Klamotten für den Tag raus. Wie jeden Morgen machte er sich im Bad
fertig. Wie jeden Morgen setzte er sich an den Frühstückstisch und
löffelte sein Müsli. Um danach, wie jeden Morgen, das Haus zu
verlassen und zur Schule zu gehen.
Es gab Abweichungen, natürlich gab es die. Diese klitzekleinen
Kleinigkeiten, die jeden Tag anders waren. Der Himmel, der mal
strahlend blau und wolkenlos, mal grau und düster war. Die Bäume
und Pflanzen, die wuchsen und mit den Jahreszeiten ihr Aussehen
wechselten. Die Wochenenden waren anders. In den Ferien war es
anders. Wenn Unterricht ausfiel, war es anders.
Doch im Grunde war jeder Wochentag gleich und jede Woche war gleich.
Die klitzekleinen Kleinigkeiten, die vorgaben den Tag anders als die
anderen zu machen, die scheinbaren großen Ereignisse, die
Veränderungen herbeizuführen schienen, durchbrachen dieses Muster
hin und wieder. Aber egal, was auch war, was sich auch veränderte,
im Grunde blieb alles gleich.
Er setzte sich in den Bus, mit dem er jeden Morgen zur Schule fuhr.
Mit ausdruckslosem Gesicht starrte er aus dem Fenster und sah die
Leute auf den Straßen sowie die Leute, die mit ihm im Bus fuhren.
Viele schauten ähnlich ausdruckslos wie er. Ob sie sich so fühlten,
wie er? Ob ihnen das Gleiche klar war, wie ihm?
Er legte die Hand auf sein Herz und spürte es schlagen. Unentwegt
pochte es in seiner Brust. Das war der Beweis, dass er am Leben war.
Der medizinische Beweis. Er lebte und doch tat er es nicht. Zumindest
kam es ihm nicht vor, als würde er leben. Da war eine Leere, die
sich mit Nichts füllen zu lassen schien. Eine Leere, die er auch in
den Augen vieler anderer Menschen zu sehen glaubte.
Eine Leere, die keine Bedeutung zu haben schien. Es war egal,
vollkommen egal. Leere hin oder her, innerlich tot oder nicht,
vollkommen egal.
Hauptsache er stand in der Woche jeden Morgen auf und fuhr zu Schule.
Hauptsache er lernte etwas, um später einen Beruf zu erlernen und
dann zu arbeiten. Hauptsache er fügte sich in die Routine des
Alltags. Das war die Hauptsache und zwar für jeden.
Im Klassenzimmer angekommen setzte er sich auf seinen Platz am
Fenster. Um ihn herum redeten seine Mitschüler. Wie alle hatten sie
Probleme und Sorgen und Ängste, Träume und Wünsche und Hoffnungen.
Manche scheuten über diese Gefühle zu sprechen, andere schienen
nichts anderes zu kennen als über diese Gefühle zu jammern und von
ihnen zu schwärmen. Es gab auch jene, die sie auslebten oder
schlicht ergreifend mit ihnen leben mussten.
Doch eins würde bei ihnen allen gleich sein, da war er sich sicher.
Eines Tages würden all diese Gefühle, die Guten und die Schlechten,
sie verlassen und die meisten würden das sogar bereitwillig
annehmen, sie würden froh darüber sein.
Er war froh. Zumindest glaubte er, dass er froh gewesen wäre, wenn
er denn noch gefühlt hätte. Wann und wo er seine Gefühle verloren
hatte, wusste er nicht. Vielleicht hatte er von Anfang an gar keine
gehabt. Es war auch egal, alles egal.
Er saß bloß da und tat das Nötigste, an der ein oder anderen
Stelle etwas mehr oder etwas weniger. Als Pause war, saß er noch
immer da und er machte auch keine Anstalten, sich von seinem Platz
wegzubewegen. Aus seiner Schultasche holte er sein Pausenbrot und
begann zu essen. Dabei blickte er sich kaum merklich um. Das Fenster
neben ihm war offen und er hörte draußen die Stimmen anderer
Schüler. Doch einige saßen auch im Klassenraum und unterhielten
sich.
Was sie redeten, interessierte ihn nicht sonderlich. Aber es war
zumindest etwas interessanter, als all das immer Gleiche, was er
ständig um sich herum sah. Eine Schule war ein recht interessanter
Ort. Auf eine gewisse Weise konnte jeder Ort interessant sein. Eine
Schule wies allerdings die Besonderheit auf, dass sehr viele junge
Menschen zusammenkamen. Junge Menschen, die alle, der eine mehr, der
andere weniger, auf dem Weg in die harte Realität waren. Die meisten
von ihnen fühlten nicht mehr ganz so intensiv wie Kinder. Sie waren
dabei ihre Gefühle an die Gesellschaft zu verlieren oder sich von
ihren Gefühlen überwältigen zu lassen. Eins der zwei würde sie
überwältigen – entweder die Gesellschaft oder ihre Gefühle. Es
war nur eine Frage der Zeit.
So lauschte er den Gesprächen, beobachtete seine Mitschüler
unauffällig und ließ ihre Leben in seinem Kopf Form annehmen. Das
war eine gute Ablenkung, ein lustiges Spiel. Es machte die
Eintönigkeit, die er überall sah, erträglich.
Manche Geschichten waren so schön dramatisch. Ein süchtiger Vater,
der nur auf dem Sofa rumhing. Eltern, die nicht aufhörten, sich
mitten in der Nacht zu streiten. Tyrannisierungen von jüngeren
Geschwistern.
Dann gab es natürlich noch die Dramen, die sich in der Schule selbst
ereigneten. Freunde, die hinter dem Rücken einer anderen,
angeblichen Freundin lästerten. Jungen, die ihren besten Freunden
das Mädchen ihrer Träume wegschnappten. Mädchen, die sich mit
jedem einließen und dann über Liebeskummer klagten.
Es war schon ziemlich amüsant. Aber letztendlich ging er mit dem
gleichen, ausdruckslosen Gesicht nach Hause, mit dem er hergekommen
war, um am nächsten Tag mit dem gleichen Gesichtsausdruck wieder in
die Schule zu fahren.
Mit jedem Tag sah er, wie mehr Träume und Hoffnungen zerstört
wurden, wie sich schlimmste Ängste bewahrheiteten und seine
Mitschüler sich langsam aber sicher in Resignation flüchteten und
dem Druck der Gesellschaft nachgaben. Die meisten würden nachgeben,
würden aufgeben.
Hatte auch er aufgegeben? War auch er bereits ins System integriert?
In dieser Gesellschaft verlor man, bevor man überhaupt zu kämpfen
begonnen hatte. Er hatte kein Ziel, keinen Traum, nichts dass er als
seine Bestimmung ansah. Gab es so etwas überhaupt? War es nicht bei
allen, die so etwas hatten, bloß eine Illusion, die früher oder
später zerstört werden würde?
Denn letztendlich bestimmte die Gesellschaft das Leben eines jeden
und diese Gesellschaft wollte nichts anderes als Maschinen. Roboter,
die funktionierten. Je weniger Gefühl, je weniger Unerwartetes umso
besser. Es ging bloß ums Funktionieren, darum ein kleines Zahnrad im
großen Ganzen zu sein.
Alle waren gleich. Jeder hatte irgendeinen Platz in diesem System, ob
er wollte oder nicht, ob ihm dieser Platz gefiel oder nicht, ob er
ihn als einen Platz erkannte oder nicht. Alle waren gleich, denn alle
lebten in diesem System und alle unterwarfen sich ihm in gewisser
Weise.
Dass ein Mensch keine Maschine war, war egal. Alles egal.
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